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Die persönliche Rendite

Frust über die eigene Partei plus Charakterschwäche plus Lobbytätigkeit macht: eine Politikerbeschimpfung à la Clement

Von Jens König

Quelle: taz vom 22. Januar 2008

Als Wolfgang Clement in die Fahrschule ging, verlor er die Nerven. Während einer Fahrstunde stieg er wutentbrannt aus und ließ das Auto mit laufendem Motor zurück. Bis heute hat Clement keinen Führerschein.

Der Mann ist unbeherrscht und von sich selbst überzeugt. Er weiß vieles gern besser als andere. Darin liegt schon ein Teil der Erklärung für Clements jüngsten Wutanfall. Der ehemalige SPD-Wirtschaftsminister und heutige Lobbyist des Energiekonzerns RWE hat eine Parteifreundin, Andrea Ypsilanti, beleidigt, und das eine Woche vor der Landtagswahl in Hessen. Clement warnte in einer Kolumne für die Welt am Sonntag davor, das Schicksal des Landes in die Hände der SPD-Spitzenkandidatin Ypsilanti zu legen. Der Grund: ihre angeblich industriefeindliche Energiepolitik. "Deswegen wäge und wähle genau, wer Verantwortung für das Land zu vergeben hat, wem er sie anvertrauen kann - und wem nicht", schrieb Clement.

Die schlichte Lesart sei hier ausnahmsweise erlaubt: Clement, ein herausragender Vertreter der SPD-Machofraktion, konnte Frau Ypsilanti noch nie leiden, er hält sie für politisch naiv. Dieses Zeugnis hat er ihr jetzt schriftlich ausgestellt, Sozialdemokratin hin oder her. Abgesehen davon, dass dieses Verhalten selbst unter parteipolitischem Aspekt außergewöhnlich ist, es zeugt von einer ausgeprägten Charakterschwäche Clements.

Seine bodenlose Kritik beweist aber auch, wie vergiftet die politische Kultur der Sozialdemokraten immer noch ist. Für die Schröders, Lafontaines, Scharpings und Clements waren Intrigen, Machtspiele und persönliche Beleidigungen noch stets Teil des politischen Geschäfts. Auf diese Weise haben sie sich gegenseitig, aber auch ihrer Partei schwere Verletzungen zugefügt. Die SPD zahlte das auf ihre Weise heim: Sie entzog jedem der Spitzengenossen früher oder später ihre Liebe. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen über die Agenda 2010 bekam Clement bei der Wahl zum stellvertretenden SPD-Chef auf dem Bochumer Parteitag 2003 nur noch 56,7 Prozent der Stimmen.

Versöhnung? Ausgeschlossen! Schröder als Gazprom-Agent, Lafontaine als Linkspartei-Chef, Scharping mit seiner Gräfin Pilati im Schlepptau, Clement als RWE- und Zeitarbeit-Lobbyist, Schily als Aufsichtsrat zweier Firmen für biometrische Sicherheitstechnik - sie alle zahlen der SPD den Liebesentzug heim. Rücksicht auf die Partei, der sie ihre Karriere zum Teil zu verdanken haben, nehmen sie dabei nicht. Daran ändert auch der ein oder andere Wahlkampfauftritt des Exkanzlers nichts. Die Unterstützung Schröders für seinen Freund Michael Naumann in Hamburg täuscht nicht darüber hinweg, dass der Kanzler a. D. als moralisch-politische Instanz - vergleichbar etwa mit dem Elder Statesman Helmut Schmidt - ausfällt. Sein bedenkenloser Wechsel von der Politik in die Wirtschaft diskreditiert ihn.

Clement und Schröder stehen hier stellvertretend für die rot-grüne Regierung. Wie wohl keine andere Bundesregierung vor ihr zeichnet sie sich dadurch aus, dass ihre Protagonisten einen fliegenden Wechsel von der Politik in die Lobbywirtschaft vollzogen haben. In der Wissenschaft wird das als "Drehtüreffekt" bezeichnet: raus aus der Politik, rein in die Wirtschaft und umgekehrt - zum Vorteil beider Seiten, zum Nachteil der Demokratie.

Die Organisation LobbyControl hat das zweite Schröder-Kabinett (2002-2005) unter die Lupe genommen. Das Ergebnis ihrer Studie vom November 2007 ist bezeichnend: "Ehemalige Regierungsmitglieder und Führungspersonen der Ministerialbürokratie wechseln in großem Umfang direkt nach Beendigung ihrer politischen Tätigkeit (oder parallel zur Fortführung ihres Bundestagsmandates) in Lobbytätigkeiten im engeren und weiten Sinn", schreiben die Autoren. "In den meisten Fällen sind die Lobbytätigkeiten eng mit den vorherigen politischen Aufgabenfeldern verbunden." Von 63 Ministern und Staatssekretären haben 12 klare Lobbytätigkeiten übernommen. "Hier liegt der Verdacht auf der Hand", heißt es in der Studie, "dass bei politischen Entscheidungen der Seitenblick auf die späteren Jobchancen zu einem bedeutenden Faktor wird."

Die rot-grünen Politiker sind fast ausschließlich für Unternehmen, Unternehmensverbände und unternehmensnahe Denkfabriken tätig. Der Wechsel zu einem Umweltverband ist die Ausnahme. Außerdem problematisch: Viele ehemalige Politiker zeigen sich nicht gerade auskunftsfreudig, was ihre neue Tätigkeit betrifft. Als zwei Tagesspiegel-Redakteure Joschka Fischer neulich im Interview fragten, was sich hinter seiner "Joschka Fischer Consulting" verberge und wie viel Geld man für eine vernünftige Beratung mitbringen müsse, antwortete der ehemalige Außenminister: "Rechenschaft schuldig bin ich nur noch dem Finanzamt. Schauen Sie, das ist der große Gewinn meiner letzten Transformation."

Nun ist eine Lobbytätigkeit allein noch kein Grund, Parteifreunde zu beschimpfen. Sie verführt aber dazu, die Politik für die Verfolgung privater wirtschaftlicher Interessen zu vereinnahmen. Dazu charakterliche Schwächen und der Frust über die eigene Partei - das macht einen klassischen Clement.

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zehn jahre taz-geschichte in nordrhein-westfalen - die serie. folge 5: das jahr 2001 - der "metrorapid"

Als Ministerpräsident Wolfgang Clement ausrastete

Von Andreas Wyputta

Quelle: taz vom 23. Juni 2007

"Sind fünf Minuten Zeitersparnis fünf Milliarden Mark wert?" Ministerpräsident Wolfgang Clement kann die Frage der taz nicht ertragen. Vor der versammelten, auf die Transrapid-Teststrecke ins Emsland gekarrten Landespressekonferenz springt der Sozialdemokrat auf, brüllt herum. Wer so etwas frage, habe rein gar nichts begriffen. Die in "Metrorapid" umgetaufte Magnetbahn sei das Schlüsselprojekt für NRW, ein "Leuchtturm", der bis zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 strahlen soll. Mit 400 Stundenkilometern soll das Ding von Dortmund nach Köln rasen.

Die taz hält dagegen: Viel zu teuer sei das Spielzeug der SPD. Nötig sei keine vereinzelte Hightech-Bahn, sondern eine bessere Vernetzung der bestehenden Verbindungen, die Reaktivierung still gelegter Strecken. Und: Werde der ICE 3 eingesetzt, koste jede Minute Zeitersparnis des "Metrorapids" 1,2 Milliarden Euro, rechnen Verkehrsexperten vor. Clement kann das nicht ertragen: "Die Berichterstattung erreicht nicht einmal das Niveau von Treppenhausgeschwätz", lässt er an Chefredakteurin Bascha Mika faxen. Die reagiert professionell - und leitet die Hasstiraden Clements unkommentiert an die Bochumer ruhr-Redaktion weiter.

Die ist inzwischen umgezogen - raus aus der kultigen, aber abseits gelegenen ehemaligen Zeche Hannover, rein in die Innenstadt. Mitten im Bochumer Bermuda-Dreieck kämpft die Redaktion um NRW-Chef Markus Franz gegen chronischen Geldmangel - und hofft auf die tägliche Ausgabe. Denn immer noch erscheint die taz nrw mit ihren lokalen Fenstern in Ruhr, Köln und Münster nur wöchentlich. Dann die Niederlage: Die taz münster muss im Sommer schließen, Redaktionsleiter Franz wird nach Berlin abgezogen. Die taz-Truppe macht trotzdem weiter, berichtet über die neue SPD-Europaministerin Hannelore Kraft wie über die skandalösen Arbeitsbedingungen, unter denen der Essener Schuhhändler Deichmann in Indien produzieren lässt. Wolfgang Clement aber steht erst 2006 wieder für ein Interview zur Verfügung - und trauert prompt seinem "Metrorapid" hinterher.

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Mehr Leiharbeit wagen

WOLFGANG CLEMENT IN NEUER MISSION - Der flächendeckend gescheiterte Ex-Minister wird zum Lobbyisten der ganz besonderen Art

Von Berthold Paetz

Quelle: Freitag vom 27. Oktober 2006

Wie man frei von jeder Korruption und allein dem nationalen Interesse verpflichtet ins Gasgeschäft einsteigen kann, zeigt Gerhard Schröder. Wie man die Arbeit fürs Gemeinwohl nach dem politischen Karriereknick konsequent fortsetzen und als Consultant den überfälligen Verkauf kommunalen Vermögens beschleunigen kann, demonstriert Rudolf Scharping. Nach langem Suchen hat endlich auch Wolfgang Clement, der Inbegriff sozialdemokratischer Integrität, einen Platz gefunden, um seine wegweisenden Reformen zu festigen. Wir brauchen mehr Leiharbeit - das hat er schon als Minister gesagt. Und deshalb wird er - in dieser Woche offiziell verkündet - dem "Adecco -Institut zur Erforschung der Arbeit" als Vorsitzender dienen.

Das Institut mit Sitz in London, vollständig finanziert vom gleichnamigen größten Global Player der Leiharbeitsbranche, soll, wie es in einer Pressemitteilung heißt, eine führende Forschungseinrichtung werden, vor allem aber wohl mit allerlei Gutachten die Segnungen kurzfristiger Vermietung von Arbeitskräften preisen. Gewohnt knapp formulierte Clement, der mit seinen Aufsichtsratsposten (RWE, DIS, Landau Media, DuMont Schauberg und Dussmann) nicht ausgelastet ist, bereits vor Wochen: "Ich möchte mit dem Adecco-Institut dazu beitragen, dass die Zeitarbeit in Deutschland europäisches Niveau erreicht". Gefragt, ob er damit eine bessere soziale Ausgestaltung meine, verneinte Clement entschieden. Er wolle vielmehr den Anteil der Zeitarbeiter an allen Bechäftigten von derzeit rund 1,7 auf bis zu fünf Prozent steigern.

Dieser Versuch, Leiharbeit pseudowissenschaftlich zu adeln, ist folgerichtig. Denn die Branche mit dem schlechten Ruf wächst rasant. Den Durchbruch brachte ausgerechnet der von Clement zu verantwortende Misserfolg einer Hartz-Reform. Die 2003 neu geschaffenen Personal-Service-Agenturen (PSA) sollten Arbeitslose mit "mittleren Vermittlungshemmnissen", wie es hieß, an Betriebe verleihen und als Institution zum flächendeckenden Standard werden. Hoffnungslos überfordert, weil die Philosopie der neuen Agenturen nur für eine Minderheit der Arbeitslosen passte, verwandelten sich die PSA in einen flächendeckenden Flop. Aber die politische Akzeptanz von Leiharbeit blieb, und davon profitierten die privaten Verleiher, nachdem die ambitioniert gestarteten PSA ihren Betrieb eingestellt hatten. Als günstig erwies sich auch der im Sommer 2006 zwischen Gewerkschaften und den beiden großen Zeitarbeitsverbänden ausgehandelte Mindestlohntarifvertrag. Mit ihm wurde Leiharbeit zumindest teilweise "entprekarisiert".

Ohne die früher geltenden, längst "wegreformierten" Beschränkungen des "Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes" wächst die Branche gegenwärtig mehr als je zuvor. Auf mehr als acht Milliarden Euro - ein Plus von 16 Prozent - ist ihr Umsatz im vergangenen Jahr gestiegen, in diesem Jahr hält man weitere 15 bis 18 Prozent für möglich. Jahresdurchschnittlich gab es 2005 rund 375.000 Zeitarbeiter, fast dreimal mehr als vor zehn Jahren. Der spektakuläre Boom folgt einer Personalpolitik in den Unternehmen, die von "Outsourcing", reduzierten Stammbelegschaften und Einstellungsstopps geprägt ist. Die Lücke füllen Leiharbeiter, vor allem dann, wenn konjunkturbedingt die Nachfrage nach Arbeitskräften steigt.

Vom Mehrbedarf profitieren überproportional die großen Leiharbeitskonzerne, die ihre finanziellen Reserven für eine Konzentration des Geschäfts einsetzen. Clements neuer Arbeitgeber Adecco, 1996 als Fusion der schweizerischen Adia und der französischen Ecco entstanden, gab im Januar 2005 die Übernahme der ebenfalls französischen Altedia bekannt. Ein Jahr später schluckte man die bis dahin weitgehend auf den deutschen Markt konzentrierte DIS, deren Börsenkurs sich seit Merkels Amtsantritt fast verdoppelte. Der niederländische Konzern Ranstadt zog nach, kaufte vor sechs Jahren Time Power und ließ die Verleihfirmen Teccon und Bindan folgen. Nimmt man die in Europa stark vertretene US-amerikanische Manpower -Gruppe hinzu, ergeben sich auf dem deutschen Markt vielfach kartellähnliche Verhältnisse. Aus Sicht dieser "fetten Katzen" wirkt der neue Mindestlohntarifvertrag wie eine Flurbereinigung gegenüber kleineren Wettbewerbern.

Für den Verleih im großen Stil ist Wolfgang Clement der passende Lobbyist. Er hat den Weg bereitet, nicht nur politisch, auch ideologisch. Noch kurz vor der letzten Bundestagswahl im August 2005 publizierte sein Ministerium die Broschüre Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, "Abzocke" und Selbstbedienung im Sozialstaat. Schlagzeilen machten Begriffe wie Schmarotzer, Trittbrettfahrer, Abzocker und Parasiten, von denen Clement sich nie distanzierte. Nun wissen wir, welchen Vorrang er meinte: massenhafte Leiharbeit für die Anständigen.

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Ex-Arbeitsminister Clement hat einen weiteren Arbeitsplatz gefunden: Er wird Vorsitzender des neuen ‚‚Adecco Institute’’ zur Erforschung der Arbeit

Das von Adecco - dem nach eigenen Angaben „Weltmarktführer für Personaldienstleistungen“ - finanzierte Institut mit Sitz in London soll eine führende Forschungseinrichtung zum Thema Arbeit werden, meldet dpa. Den Vorsitz in diesem neuen Institut soll der ehemalige Arbeitsminister Wolfgang Clement übernehmen. Wie sich der Finanzier des Forschungsinstituts dem Thema Arbeit nähert, kann man aus der Unternehmenstätigkeit von Adecco ablesen: Das Unternehmen handelt mit Arbeitnehmern, vor allem mittels Zeitarbeit, Outcourcing und Personalvermittlung. „Wir vermitteln weltweit täglich mehr als 700.000 Menschen an mehr als 15.000 Kunden“ heißt es stolz auf der firmeneigenen Hompage. Man kann sich also vorstellen in welche Richtung die „Erforschung neuer Wege für Arbeit und soziales Leben“ gehen wird. Clement sagte laut Presseagentur: Er freue sich, am Aufbau einer Institution mitwirken zu können, die einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung Europas leisten möchte. „Better work, better life“ – so das Adecco-Motto – mit modernem Menschenhandel?

Von Wolfgang Lieb

Quelle: Nachdenkseiten vom 05. Oktober 2006

Dass der ehemalige Superminister Wolfgang Clement ein umtriebiger, ja geradezu ruheloser Mensch ist, hat er in seinen politischen Ämtern bewiesen. Dass er sich nicht auf seiner stattlichen Pension ausruhen würde, war zu erwarten. Seit seinem Ausscheiden aus der Politik hat er mindestens sechs neue Arbeitsplätze gefunden: Aufsichtsratsposten bei der Berliner Dussmann – Gruppe (einem Dienstleistungsunternehmen), bei der Landau-Media AG (einem Anbieter von Medienbeobachtung und Resonanz-Analysen), bei der RWE-Power in Essen (einem der größten Stromproduzenten Europas), bei der Zeitarbeitsfirma DIS. Er ist darüber hinaus „Senior Advisor“ beim Bankenriesen Citigroup und er wurde in den Vorstand Kölner Unternehmensgruppe M. DuMont Schauberg (u.a. Kölner-Stadtanzeiger, Kölnische Rundschau, Express, Mitteldeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, die israelische Zeitung Ha’aretz) berufen.
Politisch neu aktiv wurde er im konservativen „BürgerKonvent“ von Roman Herzog.

Das alles füllt Wolfgang Clement natürlich noch lange nicht aus, er will jetzt auch noch den Vorsitz des neuen ‚‚Adecco Institute’’ zur Erforschung der Arbeit übernehmen.
Nachdem er mit seinen politischen Arbeitsmarktprojekten von Hartz I bis IV gescheitert ist, soll er sich nun „wissenschaftlich“ dem Anliegen der Adecco um eine „Neudefinition der Arbeit“ widmen – also um die Wachstumschancen von Zeitarbeit, von Oursourcing und von kommerzieller Personalvermittlung etwa.
Adecco geht bei dieser „Neudefinition der Arbeit“ beispielhaft voran. Laut “innovationsreport” beschäftigte Adecco 1999 bei einem Umsatz von damals 28 Milliarden DM weltweit 30.000 Mitarbeiter (2006. 33.000) und als „weltweit zweitgrößter privatwirtschaftlicher Arbeitgeber“ 730.000 Zeitarbeitnehmer.

Nach Auffassung von Adecco ist Zeitarbeit „der wesentliche und gesellschaftlich akzeptierte Faktor zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Steigerung der Flexibilität.“

Niemand sollte sich also darüber wundern, wenn Clement künftig als „wissenschaftlicher Experte“ und Lobbyist für Zeitarbeit, Oursourcing und kommerzielle Personalvermittlung auftritt. Man kann nur hoffen, dass er in seinem neuen Job genauso erfolglos sein wird, wie als „Arbeits“-Minister und hoffentlich mit weniger Folgen für Millionen von Menschen.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Von mir aus kann Clement jeden Job der Welt machen und so viel Tantiemen verdienen, wie er will. Es ist aber wohl nicht davon auszugehen, dass Wolfgang Clement sein politisches Bewusstsein mit seinem ausscheiden aus der Politik ausgewechselt hat. Seine neuen Tätigkeiten erhellen somit zu einem guten Stück den Kurs der Politik, für den auch der frühere Ministerpräsident und Superminister eingetreten ist. Die Sozialdemokratie hat diesen Kurs – zwar mit Murren – mitgetragen und es hat nicht den Anschein als gäbe es Kritik oder gar eine Umkehr von diesem Kurs.

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Feuilleton

Gläserne

Clement gegen Hippokrates: Die ärztliche Schweigepflicht sturmreif geschossen zu haben, gehört zum Vermächtnis des Superministers. Eine Initiative zur Korrektur der Hartz-Gesetzgebung

Von Antonín Dick

Quelle: junge Welt vom 17. November 2005

Die Agentur für Arbeit Neumünster ist vor einem Jahr dazu übergegangen, systemkritische Arbeitslose mittels Androhung von Leistungskürzungen zu zwingen, ihren Arzt von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden, um so den ungehinderten Zugriff auf deren Patientendaten zu ermöglichen (siehe www.LabourNet.de). Der Arbeitslose als lebendes Einbruchswerkzeug in das verfassungsmäßig geschützte Geheimnis des Arztes?

Seit dem Wirken des Arztes und Humanisten Hippokrates vor fast 2 500 Jahren existiert das Arztgeheimnis. Im Eid des Hippokrates heißt es: »Was ich in meiner Praxis sehe oder höre oder außerhalb dieser im Verkehr mit Menschen erfahre, was niemals anderen Menschen mitgeteilt werden darf, darüber werde ich schweigen, in der Überzeugung, daß man solche Dinge streng geheimhalten muß.« Im Ärztegelöbnis, verabschiedet von der Generalversammlung des Weltärztebundes 1948 in Genf, heißt es: »Ich werde das Geheimnis dessen, der sich mir anvertraut, wahren.« Und die Verpflichtungsformel für deutsche Ärzte, verabschiedet vom 82. Deutschen Ärztetag 1979, lautet: »Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse wahren.«

Und diese Errungenschaft der Zivilisation soll jetzt durch internes Dienststellenrecht der Bundesagentur für Arbeit für hinfällig erklärt werden können? Einiges spricht dafür. In einem Schreiben vom 3. Juni forderte der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, die Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) zur Intensivierung der Betreuung von Arbeitslosen auf. Laut Rainer Göckler vom Zentralbereich S/S 21 der BA birgt die entsprechend verstärkte Anwendung des »beschäftigungsorientierten Fallmanagements im SGB II« den bürgerrechtsrelevanten Gefahrenpunkt einer behördlichen Erfassung von »Gesundheitsdaten« des Arbeitslosen mittels Zugriff auf ärztliche Patientendokumentationen in den Bereichen »gesundheitlicher Zustand, Krankheiten, Behinderungen, regelmäßige Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte«.

Wie reflektieren die Ärzte diese neue Situation ihrer arbeitslosen Patienten? Wie können sie sich dagegen wehren, daß das Arztgeheimnis auf Schleichwegen umgangen wird? Hier bahnt sich ein Widerspruch zwischen dem verfassungsmäßig geschützten Arztgeheimnis und dem Dienststellenrecht der Bundesagentur der Arbeit an, der, sollte das Beispiel von Neumünster Schule machen, eine nicht mehr zu kontrollierende Eigendynamik entwickeln dürfte.

Die Ausarbeitung der Hartz-Gesetzgebung erfolgte 2003 durch eine dem Bundesministerium für Arbeit zugeordnete Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Peter Hartz. Eine jetzt zum Schutz des Arztgeheimnisses erforderliche Gesetzeskorrektur müßte von einer dem Bundestag zugeordneten Arbeitsgruppe ausarbeitet und dem Parlament zur Entscheidung vorgelegt werden. Parlamentarier aller Bundestagsparteien, Vertreter der Arbeitslosenverbände, der Gewerkschaften, der Bundesärztekammer und der Bundesagentur für Arbeit sollten in diesem Gremium mitwirken.

Der Schutz des Arztgeheimnisses im Rahmen der Hartz-Gesetzgebung ist ein Gebot unserer Demokratie. Es geht um die Persönlichkeitsrechte arbeitslos gewordener Staatsbürger. Vor wenigen Tagen leitete ich den rechtspolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen der Linken und der Grünen, Sevim Dagdelen und Jerzy Montag, eine entsprechende Gesetzesinitiative zu. Man darf auf das Echo gespannt sein.

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Das Soli-Barometer fällt

Der Streit um Hartz-IV-Missbrauch beruht auf Unkenntnis und unseriösen Berechnungen - und versetzt Maßstäbe: Das Existenzminimum wird abhängig von Stimmungen

Von Barbara Dribbusch

Quelle: taz vom 09. November 2005

Wer dieser Tage mit Selbstständigen oder Angestellten redet, was von den angeblich zu hohen Kosten für die Hartz-IV-Reform zu halten sei, gerät schnell in einen Streit über Sozialmissbrauch. Der Gedanke, dass es in Deutschland mehr Menschen gibt als gedacht, die bewusst auf Kosten anderer leben, ist aus vielen privaten Debatten nicht mehr wegzukriegen. Es verschiebt sich etwas im gesellschaftlichen Verständnis von Solidarität - und das könnte am Ende die eigentliche, entscheidende Folge der Hartz-IV-Reform sein.

Ein Hinweis auf das fallende "Solidaritätsbarometer" ist die ausbleibende Empörung über die geplanten Einsparungen bei den Empfängern des Arbeitslosengeld II. 1,8 Milliarden Euro will die kommende Regierung hier kürzen, darunter 1 Milliarde Euro durch bessere Vermittlung, aber auch durch die schärfere Verfolgung von Missbrauch.

Auch die Tatsache, dass der Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger von 345 Euro im Monat im Westen (im Osten 331 Euro) in den Jahren bis 2009 möglicherweise eingefroren wird, weil er an die Entwicklung des Rentenwerts gekoppelt ist, regt kaum jemanden mehr auf. Bei einer angenommenen Preissteigerungsrate von 2 Prozent im Jahr bedeuten Nullrunden in den nächsten fünf Jahren jedoch einen Kaufkraftverlust von 10 Prozent für die Langzeitarbeitslosen. Und das ist viel.

Die "Missbrauchskampagne" von Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hat ihren Teil dazu beigetragen, die Stimmung gegen die Arbeitslosen aufzuheizen. Ein Beispiel dafür ist das Gerücht von den vielen Paaren und Jugendlichen, die angeblich in Einzelhaushalte ziehen, um mehr Geld zu kassieren. Wahr ist: Der Anteil der Singlehaushalte an allen Bedarfsgemeinschaften auf Arbeitslosengeld II lag im Januar bei 55 Prozent und ist seither nicht angestiegen. Zwar kletterte die absolute Zahl der Singlehaushalte leicht in die Höhe, nur war das eben auch bei allen anderen Bedarfsgemeinschaften der Fall, es gibt also keine "Zellteilung", die auf größere Mitnahmeeffekte hindeuten könnte.

Auch die vermeintlich "explodierenden" Kosten für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger sind in erster Linie die Folge einer höchst unseriösen Rechnung des Wirtschaftsministeriums zu Beginn dieses Jahres. Für 2005 wurden nämlich ursprünglich nur 14,6 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II eingeplant, um den Bundeshaushalt nicht allzu instabil wirken zu lassen.

Eine solche Rechnung war jedoch damals schon unsittlich. Schließlich kostete die Arbeitslosenhilfe im vergangenen Jahr bereits 18,7 Milliarden Euro. Und hinzugerechnet werden musste noch die Sozialhilfe, die mit 9,8 Milliarden Euro zu Buche schlug. Wenn man diese Werte auf 2005 hoch- und das Wohngeld hinzurechnet, kommt man auf Kosten von fast 34 Milliarden Euro, die nach dem alten System in diesem Jahr angefallen wären.

Demgegenüber geht die Politik jetzt davon aus, dass 2005 durch die Hartz-IV-Reform voraussichtlich 26 Milliarden Euro an Arbeitslosengeld II und dem so genannten Sozialgeld für die Kinder von Erwerbslosen gebraucht werden. Hinzu kommen noch geschätzte 12 Milliarden Euro an Ausgaben für die Unterkunftskosten, macht zusammen 38 Milliarden Euro.

Die vermeintliche "Kostenexplosion" beträgt also rund zehn Prozent. Aber selbst dieser Unterschied von 4 Milliarden ist teilweise erklärbar aus den Neuerungen in der Bundesagentur für Arbeit. 1-Euro-Jobber beispielsweise bekommen heute das Arbeitslosengeld II plus die Mehraufwandsentschädigung. In früheren Jahren landeten diese Leute oftmals in Fortbildungsmaßnahmen und ABM und wurden daher in einer anderen Statistik gezählt.

Dennoch ist richtig, dass die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger heute erheblich höher liegt als die Zahl der Empfänger von Sozial- und Arbeitslosenhilfe im vergangenen Jahr. Doch die Gründe dieses Anstiegs liegen unter anderem im Gesetz: Heute zählt beispielsweise auch eine 16-jährige Schülerin und Tochter von erwerbslosen Eltern als Arbeitslosengeld-II-Empfängerin.

Unbestritten ist dabei, dass die Bedingungen für den Bezug von Arbeitslosengeld II heute etwas besser sind als die früheren Umstände für den Anspruch auf Sozialhilfe. Das ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass mit der Hartz-IV-Reform Arbeitslosen- und Sozialhilfe vereinheitlicht und die Sozialhilfe damit gewissermaßen "angehoben" wurde.

Bei einem 55-Jährigen, der sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen hat und jetzt Arbeitslosengeld II beantragt, wird beispielsweise im Unterschied zur früheren Sozialhilfe nicht mehr nach dem Einkommen der erwachsenen Kinder gefragt. Gleiches gilt umgekehrt für junge Erwachsene, denn auch hier gibt es nur in bestimmten Fällen einen Unterhaltsrückgriff bei den Eltern. Union und SPD wollen aus diesem Grund bei allen unter 25-Jährigen diesen Rückgriff wieder einführen.

Kleinselbstständige, die in Not geraten, dürften heute auch eher Arbeitslosengeld II beantragen, während sie sich früher schämten, "zum Sozialamt" zu gehen. Dass es nicht mehr so demütigend ist wie früher, Hilfe zu holen, ist eigentlich eine gute Nachricht. Aus dem Rückgang an "verschämten Armen" gleich die "unverschämten Arbeitslosen" zu machen - das ist jedoch bezeichnend für eine Politik, die Rechtfertigungen braucht, um die Probleme in den öffentlichen Haushalten in den Griff zu bekommen.

Dabei ist unbestritten, dass es Missbrauchsfälle gibt - den Bauhandwerker, der Alg II beantragt hat und nun in Schwarzarbeit Wohnungen renoviert; die erwerbslose Köchin, die sich lieber durch Putzen etwas hinzuverdient, als sich um einen Vollzeitjob zu bemühen. Doch diese Jobverweigerer, die in der Tat auf ihre Weise den Ruf des Sozialsystems schädigen, die gab es schon immer. Es existieren keine empirischen Belege dafür, dass deren Anteil an den Leistungsempfängern größer geworden ist.

Dennoch lässt sich heute der Verdacht des "Sozialmissbrauchs" besonders leicht befeuern. Das liegt an der kalten Logik der sozialen Sicherung. Je schwächer die Wirtschaft läuft, desto mehr steigt die Zahl der Arbeitslosen, desto größer wird die Abgabenlast für die Erwerbstätigen. Wer einen Job hat, leidet dann nicht nur unter den hohen Beiträgen, sondern muss diese auch noch unter immer härteren Bedingungen erwirtschaften. Ressentiments gegen Erwerbslose lassen sich daher paradoxerweise in schwierigen Zeiten leichter schüren als in einer boomenden Wirtschaft.

So könnten sich demnächst die Maßstäbe des Sozialen weiter verschieben: Kommen die Nullrunden für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger, beinhaltet die Grundsicherung für Arbeitslose kein Grundrecht auf ein Existenzminimum mehr. Sie ist vielmehr abhängig von der Haushalts- und von der Stimmungslage in der Gesellschaft. Und diese Gefühle lassen sich, wie man gesehen hat, politisch leicht beeinflussen. Beklemmend ist das schon.

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Kommentar

Unschuldslamm des Tages

Wolfgang Clement

Quelle: junge Welt vom 09. November 2005

Mit der Übernahme des Berliner Verlages durch einen Finanzinvestor sei jetzt »auch die deutsche Presse auf dem Boden der ökonomischen Tatsachen angekommen«, schreibt der amtierende Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) am Dienstag in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung. Danke für die Klarstellung. Man war von SPD und und Grünen in den letzten sieben Jahren nichts anderes gewohnt, aber kurz vor Toresschluß kann ja noch einmal gesagt werden, was diese Herrschaften von westlicher Wertegemeinschaft inklusive Pressefreiheit, Grundrechten und Verfassungsgrundsätzen halten: Nichts. Wenn die Empörung mal lästig wird, kann das Recht auch »weiterentwickelt« werden, z. B. wenn gerade ein Angriffskrieg gegen Jugoslawien fällig ist.

Wolfgang Clement wollte als Minister auch das Recht weiterentwickeln, nämlich das Pressefusionsrecht. Sein Vorschlag lief darauf hinaus zu gestatten, daß der Milliardär Holtzbrinck zwei Tageszeitungen in Berlin oder anderswo besitzen darf. Das paßte der Milliardärin Springer und einigen Multimillionären nicht. Die »Lex Holtzbrinck« scheiterte. Im Clement-Sprech heißt das: Es lag »an den Partikularinteressen einzelner Verleger, an der indifferenten Haltung des Verlegerverbandes und der geschlossenen Ablehnung der Journalistenverbände«. Damit ist auch das mal wieder klar: Was Gesetz wird, entscheidet nicht der Bundestag.

Wenn nun, so Clements Schlußfolgerung, »Heuschrecken« in die deutschen Pressebiotope einfallen, sind sie die letzte Hoffnung fürs Gewerbe: »Von den mehr als 350 deutschen Tageszeitungen gilt ein Drittel als ökonomisch bedroht. Auflagen und Werbeerlöse sinken, immer weniger Menschen, und vor allem immer weniger junge, nutzen die Zeitung.«

Wenn endlich klar ist, daß Zeitungen Anzeigenblätter sind, für die einige Leute erstaunlicherweise Geld bezahlen, dann hat sich der Sinn von Journalismus in Clements Ordnung erfüllt. Irgendwann müssen selbst Zeitungsmacher auf die Tatsachen kommen.

(asc)

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DEBATTE üBER "PARASITEN"

Vom Lügen und Betrügen

Der ausrangierte Minister Clement hinterlässt ein schäbiges Papier

Von Maria Wersig und Sabine Berghahn

Quelle: Freitag vom 04. November 2005

Einmal mehr bekämpfen verantwortliche Politiker nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen. Doch trotz starker Bemühungen von Wirtschaft und Politik findet das Argument "Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten" bislang keine Mehrheit in der Bevölkerung. Deshalb wird nun versucht, sie zu spalten. Der Report vom Arbeitsmarkt aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA), der gegen "Missbrauch, ›Abzocke‹ und Selbstbedienung im Sozialstaat" mobil macht, hat genau diese Funktion. Die Solidarität mit faulen, parasitären Fremden aufzukündigen - so das Kalkül - wird den Bürgerinnen und Bürgern leichter fallen als mit Menschen wie du und ich.

Das Papier aus dem Hause Wolfgang Clements suggeriert, die den Sozialstaat unsolidarisch aussaugenden "Parasiten" hätten es nicht anders verdient, als von den Jobcentern gegängelt und kontrolliert ohne Aussicht auf einen neuen Arbeitsplatz in Armut zu leben. Nicht nur, dass sie einfach nicht genug Verantwortung für sich selbst übernehmen, das Papier beschuldigt sie, die Solidargemeinschaft wie parasitäre Fremdkörper auszunutzen und damit die wahre Ursache des Problems zu sein.

Was bereits durch die Rhetorik der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik als persönlicher Makel und individuelles Scheitern konstruiert wurde, wird durch den pauschalen Vorwurf des Lügens und Betrügens notwendig ergänzt. Die Stigmatisierung der Langzeitarbeitslosen ist notwendig, um sie sozialpolitisch aus dem Blickfeld zu rücken. Gleichzeitig soll gegen Personen Stimmung gemacht werden, die - notfalls vor Gericht - ihre Rechte einfordern.

Missbrauch im Clementschen Sinne ist nicht streng juristisch zu definieren. Denn das Papier kritisiert - neben offensichtlichen Beispielen für Betrug im strafrechtlichen Sinne - die "Zuhilfenahme von Schlupflöchern und geschickten Interpretationen von Bestimmungen", mit denen Menschen versuchen, "an öffentliche Leistungen auf eine Weise zu kommen, die den Geist der Reformgesetze auf den Kopf stellt". Nicht alles, was der Wortlaut des Gesetzes gestattet, ist also auch moralisch statthaft.

So wurden mit Hartz IV die bisher im Sozialhilferecht geltenden sehr strengen Einstandspflichten zwischen Eltern und volljährigen Kindern bewusst gelockert. Junge Erwachsene gelten als eigene Bedarfsgemeinschaft und erhalten eine eigene Leistung; Eltern müssen nur noch für volljährige Kinder unter 25 Jahren ohne abgeschlossene Erstausbildung zahlen. Das aber wird nun - aus Spargründen - als Fehlsteuerung und Einladung zum Missbrauch dargestellt. Das Ziel ist offenbar die Wiedereinführung der alten Sozialhilferegelungen und die Ausdehnung auf alle ALG II-Empfänger/innen, was man bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe noch nicht gewagt hatte.

Falsche Darstellung des Ministeriums

Die wirtschaftliche Bedeutung privater Solidarität zeigt sich besonders deutlich an den - rechtlich falschen - Ausführungen des Clement-Papiers zur eheähnlichen Lebensgemeinschaft. Eheähnliche Paare müssen laut Gesetz ebenso wie Ehepaare füreinander einstehen. Verdient der/die Partner/in genug Geld (nämlich mehr als das eigene Existenzminimum plus Freibetrag bei Erwerbsarbeit), wird das Einkommen angerechnet und die arbeitslose Person gilt als nicht bedürftig, erhält also gekürzte oder keine Leistungen. Die Sozialversicherung und die Chance auf Förderleistungen zur Reintegration ins Erwerbsleben fallen praktisch weg. Das ist eine hohe Belastung für Menschen, die eigentlich keine gegenseitigen Unterhaltspflichten wie Ehepaare haben. Deshalb sind die Gerichte sehr streng: "Eheähnlich" ist laut Bundesverfassungsgericht und Bundessozialgericht, die dies bereits lange vor Inkrafttreten von Hartz IV entschieden haben, nicht jedes Zusammenleben von Mann und Frau.

Auch das Hinzutreten einer sexuellen Beziehung reicht nicht aus, denn Beziehungen von heterosexuellen Paaren, denen die Pflichten der Ehe auferlegt werden, müssen sich durch starke innere Bindungen auszeichnen, die ein Füreinander-Einstehen begründen und beinhalten. Auch jahrelanges gemeinsames Leben reicht den Gerichten als alleiniges Indiz meist nicht aus. Da die Behörde das Vorliegen nicht irgendeiner, sondern einer eheähnlichen Beziehung beweisen muss, haben Kläger/innen vor Gericht gute Karten. Nun wird eine Umkehr der Beweispflicht gefordert, das hieße, Paare müssten beweisen, dass sie nicht eheähnlich leben.

Kernelement von Hartz IV ist gerade die Ausweitung privater Einstandspflichten, mit negativen Folgen (besonders für Frauen) und immensen Einsparmöglichkeiten für den Staat. Die strenge juristische Auslegung ist den für Hartz IV Verantwortlichen offenbar ein Dorn im Auge; deshalb wird im politischen Diskurs die Selbstverständlichkeit des gegenseitigen Einstehens auch in nichtehelichen Beziehungen propagiert. Sogar der "Ombudsrat Hartz IV", der das Gesetz eigentlich kritisch überprüfen sollte, wurde trotz vieler Beschwerden über die strengen Einstandspflichten nicht müde, die Selbstverständlichkeit der finanziellen Inpflichtnahme von Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zu betonen und fordert nun auch noch die Verschärfung der Kontrollen. Politiker neigen im sozialpolitischen Zusammenhang dazu, von den "wirklich Bedürftigen" zu sprechen, zu denen jene, die mit einem erwerbstätigen Partner zusammenleben, nicht zählen sollen. Auch die gängige Sozialverwaltungspraxis geht entgegen der Rechtsprechung bereits beim Zusammenwohnen von einer eheähnlichen Beziehung aus. Das Clement-Papier berichtet demzufolge gleich im ersten Kapitel von nackten Männern auf dem Balkon und erklärungsbedürftigen "Kuhlen" im Ehebett. Ins Auge fällt dabei die Süffisanz in der Darstellung der "Missbrauchsfälle". Das Papier verschweigt, dass unangemeldete Hausbesuche der Ämter nicht in die Wohnung gelassen werden müssen und die Untersuchung der Bettstatt im Übrigen gegen das Persönlichkeitsrecht und letztlich gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes verstößt. Nicht der fliehende Bettgenosse verhält sich würdelos; die Umstände, die vom Sozialstaat und seinen Gesetzen herbeigeführt werden, entwürdigen alle Beteiligten.

Dass sich aus Nächten im gemeinsamen Bett noch keine eheähnliche Gemeinschaft folgern lässt, unterschlägt das Papier einfach, aber sogleich wird die unsägliche Behauptung aufgestellt, Berater/innen (wie eine PDS-Abgeordnete), die Paare auf die Rechtslage hinweisen, würden strafrechtlich relevant zum Betrug auffordern. Die ertappten "Betrüger" müssten die zu Unrecht erhaltenen Gelder zurückzahlen und mit Strafanzeige rechnen. "Viele wollen einfach nicht gelten lassen, dass der Staat erst einspringt, wenn niemand sonst im gemeinsamen Haushalt Unterstützung leistet", zitiert das Papier einen Prüfer der Aufspürtruppe der Bundesagentur. Diese Aussage ist in ihrer Absolutheit schlicht und einfach falsch.

Doch die Broschüre geht noch weiter, indem sie indirekt zu Denunziation auffordert. Der Hinweis einer Nachbarin: "Die lebt mit einem Mann zusammen, der sie ernährt und unterstützt - die fahren ein großes Auto", führt zum erfolgreichen Enttarnen vermeintlicher "Parasiten". Damit schließt sich der Kreis der rhetorischen Grenzziehung zwischen den Arbeitslosen (=Parasiten) und den "Anständigen".

Diskriminierende Handschrift

Die Kampagne des BMWA trägt eine Handschrift, als wollte sie Frauen und Männer zurück zu den Ehe- und Unterhaltsverhältnissen des 19. Jahrhunderts bringen. Das Gebot, dass laut SGB II Ehegatten und eheähnliche Paare füreinander aufkommen müssen, setzt die Tradition des (männlichen) Ernährermodells fort. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht mit seinem "Arbeitslosenhilfeurteil" von 1992 bereits aufgezeigt, wie man für Eheleute und gleichgestellte Paare den Zwang zur Alleinverdienerehe schrittweise würde aufbrechen können: Es hatte nicht nur strengere Maßstäbe für die Feststellung einer "eheähnlichen Beziehung" vorgegeben, sondern auch angeordnet, dass die Selbstbehaltbeträge für den verdienenden Teil des Paares deutlich erhöht und dynamisiert werden müssten. Doch in Deutschland scheint sich die Uhr rückwärts zu drehen, nicht die Entwicklung hin zum geschlechteregalitären Zweiverdienerhaushalt strebt die Politik hier an, sondern sie verstärkt wieder die Elemente des männlichen Ernährermodells.

Die Regeln zur Anrechnung von Partnereinkommen sind eindeutig mittelbar diskriminierend, denn es werden sehr viel mehr ALG II-Ansprüche von Frauen als von Männern gekürzt und gestrichen - mit weitreichenden Nachteilen für die Existenzsicherung und Partizipation von Frauen, nicht nur während der Zeit der Anrechnung, sondern in der gesamten Erwerbsbiographie. Dafür gibt es keine Rechtfertigung, derartige Regelungen verfestigen die Ungleichheits- und Abhängigkeitsmuster, anstatt sie zu überwinden. Dies aber wäre nach dem Grundgesetz gerade die Aufgabe des Staates und speziell der Gesetzgebung.

Als Gegenwehr gegen ein solches Projekt der Entsolidarisierung der Gesellschaft müssten Konzepte ausgearbeitet werden, die eine geschlechteregalitäre Umorganisation von bezahlter und unbezahlter Arbeit vornehmen und parallel dazu ein soziales und partizipativ individualisiertes Sicherungssystem schaffen.

Maria Wersig ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin; Sabine Berghahn ist Politikwissenschaftlerin und Juristin, Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin.

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Titel

Clements letzte Lüge

Bundesregierung feiert gefühlten Rückgang der Arbeitslosenzahlen als Reformerfolg. In Wirklichkeit hat sich die Erwerbslosigkeit weiter verschärft

Von Ulrich Schwemin

Quelle: junge Welt vom 03. November 2005

© AP/Michael Sohn

Der scheidende Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement (Foto) hat am Mittwoch seine voraussichtlich letzte Schlacht gewonnen: Er ist seiner eigenen Propaganda auf den Leim gegangen. Der gemeldete Rückgang der Arbeitslosenzahl um 94000 gegenüber dem Vormonat zeige, daß die Reformen wirkten, sagte der SPD-Politiker in Berlin. »Die Chance nimmt jetzt Konturen an, daß wir die Arbeitslosigkeit in Deutschland dauerhaft reduzieren können«, halluzinierte Clement. Begründung: Sie sei im Oktober stärker als in den vergangenen 15 Jahren gesunken.

Zuvor hatte die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit (BA) bekanntgegeben, daß sich die Zahl der Menschen ohne Job auf 4,556 Millionen verringert habe. Guckt man sich die aktuelle Erwerbslosenzahl genauer an als Clement, stellt sich allerdings schnell heraus, daß sie um 349000 höher liegt als im Oktober 2004.

Tatsächlich tritt in diesem Monat alljährlich ein saisonal bedingter Rückgang der Arbeitslosenzahlen im Vergleich zum September ein. In diesem Jahr, so die BA, sei dieser Rückgang doppelt so hoch ausgefallen wie im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre. Da kriegt sich Clement kaum noch ein vor lauter Stolz auf das Erreichte. Leuten, die lesen können, sträuben sich dagegen eher die Nackenhaare. Denn im Oktober 2005 haben laut BA 31000 Erwerbslose einen auf höchstens neun Monate befristeten Ein-Euro-Job angenommen und flogen so aus der Statistik. Gleichzeitig wurde bekannt, daß die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse im Vergleich zum Vorjahr um 372000 sank.

So erweist sich der von der Regierung gefeierte »leichte Rückgang« der Arbeitslosigkeit in Wirklichkeit als starker Anstieg, gewürzt mit der Umwandlung einiger zehntausend existenzsichernder in prekäre Arbeitsverhältnisse. Spiegel online schreibt dazu: »Volkswirte sprachen von einem positiven Trend, der sich in den kommenden Monaten fortsetzen werde.« In der Tat besteht daran kein Zweifel. Die designierte Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Ende vergangener Woche diesen Trend bekräftigt: Im kommenden Jahr würden erneut 200000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sang- und klanglos verschwinden.

Zwischenüberschrift gestern im Spiegel-online-Text zu den Arbeitsmarktzahlen: »Industrie stellt wieder ein«. Diese Lüge wollte zumindest die Deutsche Telekom AG nicht auf sich sitzen lassen und reagierte mit der Ankündigung, in den nächsten drei Jahren 19000 Stellen netto zu streichen. Andere werden nachziehen. BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt, der sich anders als Clement weiter mit den Realitäten auseinandersetzen muß, erklärte denn auch, die Zahl der Arbeitslosen könnte zum Jahresende die Fünfmillionengrenze überschreiten. Dennoch senkte die Behörde am Mittwoch ihre Zuschußanforderungen an den Bund von knapp drei auf zwei bis 2,5 Milliarden Euro. Im kommenden Jahr will man ganz ohne solche Bundesgelder auskommen. Sehr generös. Mit fremdem Geld kann man ungeniert herumwerfen. Denn die Zeche zahlt nicht die Behörde, sondern die Arbeitslosen müssen sie begleichen. Denen haben Gerhard Schröder und Clement mit ihren »Reformen« große Teile des Arbeitslosengeldes geraubt, auf das die BA nun großzügig verzichtet. Fortsetzung folgt, Angela Merkel und Franz Müntefering können es kaum erwarten.

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Clements Rechenkünste

Von Andreas Wyputta

Quelle: taz vom 03. November 2005

Rund 25,6 Milliarden Euro - so viel werde die Unterstützung Langzeitarbeitsloser in diesem Jahr kosten, hatte Wolfgang Clement prognostiziert: 14,6 Milliarden zahle der Bund über das Arbeitslosengeld II aus, Wohnungskosten von knapp 11 Milliarden sollten sich Bund und Kommunen teilen. Doch Clement hat sich verrechnet: Tatsächlich müssen 2005 rund 37,83 Milliarden für Menschen gezahlt werden, die länger als ein Jahr auf Jobsuche sind - NRWs Ex-Ministerpräsident hatte optimistisch mit einer Belebung der Wirtschaft und sinkenden Arbeitslosenzahlen gerechnet. Ob Hartz damit aber wirklich mehr Geld in die Sozialsysteme spült, kann Clements Bundesarbeitsministerium auch zehn Monate nach Inkrafttreten des Gesetzespakets noch immer nicht sagen. Zwar schlugen die alte Arbeitslosen- und Sozialhilfe nur mit nur mit 28,6 Milliarden Euro zu Buche. Zusätzliche Kosten etwa für Krankenhilfe oder Wohngeld aber kann das Bundesarbeitsministerium schlicht nicht beziffern - dabei dürfte es sich um weitere Milliardenbeträge handeln. Ob die als Sparprogramm gedachten Hartz-Gesetze die öffentliche Hand tatsächlich mehr Geld kosten, bleibt so völlig offen.

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EIN UNSTATTHAFTER VERGLEICH

Der Parasit

Wie Wolfgang Clement Schmarotzern zu Leibe rückt

Von Otto Köhler

Quelle: Freitag vom 28. Oktober 2005

In seinem grundlegenden Werk Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, "Abzocke" und Selbstbedienung im Sozialstaat kommt Wolfgang Clements Wirtschaftsministerium zu dem Ergebnis: "Biologen verwenden für Organismen, die auf Kosten anderer leben, die Bezeichnung ›Parasiten‹."

Diesen Begriff "Parasit" benutzt das Ministerium nur, um zu sagen, dass es damit nichts gesagt haben will: "Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen." Erklärt die Clement-Broschüre und erläutert dann, warum eine bestimmte Menschensorte noch schlimmer ist als der Parasit: "Schließlich ist Sozialbetrug" - das Wort kommt in verschiedenen Zusammensetzungen 15 Mal in der Clement-Schrift vor - "nicht von Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert" (- also schlimmer als das Verhalten von Parasiten?). Da gibt es - wie der Bericht ausdrücklich vermerkt - Hartz-IV-Empfänger mit "dicken Staubschichten" auf den Möbeln, "Essensresten und Urinflecken auf dem Teppich", kurz: "Hier haben Vandalen Quartier bezogen".

"Alles belegte Fälle", bekräftigte Anfang der Woche der parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres im Fernsehen, "keine Erfindung von Wolfgang Clement". Trotzdem, Clement könnte, nachdem nun der Protest der Parasiten über ihn hereinschlägt, leicht sagen: Wir haben ausdrücklich diesen Vergleich als "unstatthaft" bezeichnet.

Aber er tut´s nicht. Voller Leidenschaft bekennt sich Clement zu seiner neuen Berufung als Bakteriologe am Volkskörper. In der Chemnitzer Freien Presse unterstrich er am Wochenende, er könne es nicht zulassen, dass Menschen auf Kosten anderer lebten: "Das nenne ich parasitäres Verhalten".

Es gebe Untersuchungen, so legte er nach, dass mindestens 20 Prozent der Langzeitarbeitslosen nicht berechtigt seien, Arbeitslosengeld II zu erhalten. Wir haben also unter den fünfeinhalb Millionen Hartz-IV-Menschen mindestens 1,1 Millionen Parasiten im Land. Da gebe es nichts zurückzunehmen, meinte der Minister. Er müsse doch sagen können, "wie es ist".

Nun gab es schon immer viele Menschen in diesem Land, die sagten, wie es ist. Völlig unstatthaft aber ist es, einen demokratischen Staatsmann wie Wolfgang Clement mit einem nationalsozialistischen Politiker zu vergleichen. Es geht uns hier lediglich um ein rein etymologisches Verfahren, herauszufinden, wo der Begriff "Parasit" in der politischen Auseinandersetzung herkommt.

Adolf Hitler meinte noch, es sei "der Jude", der als "Parasit im Körper anderer Völker" auftrete. In seinem Hauptwerk erläuterte Hitler: "Er ist und bleibt der typische Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab" (Mein Kampf, Seite 334).

Auch er konnte das sehr einsichtig begründen: "Im Leben der Juden als Parasit im Körper anderer Nationen und Staaten liegt eine Eigenart begründet... Das Dasein treibt den Juden zur Lüge, und zwar zur immerwährenden Lüge, wie es den Nordländer zur warmen Kleidung zwingt."

Clements Denkschrift - und da kommen wir der Sache schon näher - hat einen besonders schweren Fall von Sozialbetrug entdeckt: ein Gedicht auf der Rückseite einer Hetz-Broschüre für ALG-II-Empfänger. Erich Fried, einer der aus Deutschland emigrieren musste, weil Hitler seinesgleichen für Parasiten hielt, hat es geschrieben: "Was den Armen zu wünschen wäre für eine bessere Zukunft? / Nur dass sie alle im Kampf gegen die Reichen so unbeirrt sein sollen / so findig / und so beständig wie die Reichen / im Kampf gegen die Armen sind."

Der Clement-Sendbrief an die Parasiten nennt dies: "billige Klassenkampfparolen". Und - das ist bemerkenswert: "Empfehlungen, die sich leicht auch als Ideen zum Sozialbetrug verstehen lassen." Wir verstehen: Es ist unstatthaft, den Kampf der Reichen gegen die Armen - den es nicht gibt - mit dem Kampf der Parasiten gegen die Reichen zu vergleichen.

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Inland

Abgeschrieben

WASG-Strafanzeige gegen den bisherigen Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement (SPD)

Quelle: junge Welt vom 28. Oktober 2005

* Der geschäftsführende Bundesvorstand der Partei »Arbeit und soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative« (WASG) hat am Donnerstag bei der Berliner Staatsanwaltschaft Strafanzeige gegen den scheidenden Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, erstattet:

Ich erstatte hiermit namens und im Auftrage der Partei »Arbeit und Soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative« Strafanzeige gegen den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Herrn Wolfgang Clement, Scharnhorstplatz 34-37, 10115 Berlin (Dienstadresse) wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Grundgesetz (Artikel 5, Abs. 2, »Schutz der persönlichen Ehre«) und des Verdachts der Volksverhetzung (Paragraph 130 StGB) sowie wegen Beleidigung (Paragraph 185 StGB), übler Nachrede (Paragraph 186 StGB), Verleumdung (Paragraph 187 StGB) und aller anderen hier ggf. in Frage kommenden Gesetzesverstöße. (...)

Wolfgang Clement hat (...) in seiner amtlichen Eigenschaft als Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit – als sehr hoher Repräsentant und verantwortlicher Politiker dieses Staates also – zumindest bei zwei verschiedenen Gelegenheiten zehn Prozent der ALG-II-BezieherInnen – das sind rund 280000 Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik – öffentlich beschuldigt, durch Betrug, auf kriminelle Weise also (Paragraph 85 StGB), ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben zu haben, zumindest in der von ihnen reklamierten Höhe, und/oder durch fortwährenden Betrug – auch hier: zumindest, was die Höhe des beanspruchten Arbeitslosengeldes betrifft – aufrechtzuerhalten. Öffentlich hat der Bundesminister mithin eine ganze Bevölkerungsgruppe als Kriminelle hingestellt. Allein dieses erfüllt meines Erachtens den Tatbestand der Volksverhetzung und die anderen genannten Tatbestände der Beleidigung, üblen Nachrede und Verleumdung.

Wenn man diese Vorwürfe – zu Substantiven zusammengefaßt – auflistet, hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit die betreffenden ALG-II-BezieherInnen mit den folgenden Begriffen diffamiert: Betrüger (mehrfach), Abzocker (mehrfach), Ungehemmte/ Hemmungslose (Betrüger usw...), Korrupte, Schwarzarbeiter, Sozialmißbraucher (auch: im großen Stil), Mißbraucher, Selbstbediener, Unehrliche (mehrfach), Unanständige, Leistungsmißbraucher (mehrfach), Parasiten.

Diese Beleidigungen usw. werden nicht relativiert oder gerechtfertigt dadurch, daß sich der Bundesminister zum Beleg seiner Bezichtigungen auf statistisch nicht repräsentative »Stichproben« und eine »telefonische Umfrageaktion der Bundesagentur für Arbeit« beruft. Ganz im Gegenteil: dieser Begründungversuch belegt die ungeheure Leichtfertigkeit, mit der Wolfgang Clement mindestens diese 280000 Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auf volksverhetzende Weise der Öffentlichkeit gegenüber als Kriminelle hingestellt hat.

(...) Inzwischen (...) hat der Bundesminister (...) die ALG-II-BezieherInnen, die sich angeblich strafbar gemacht hätten, auch expressis verbis als »Parasiten« bezeichnet (...). Durch diesen Vergleich von Menschen mit Ungeziefer ist Wolfgang Clement endgültig im Vokabular der Nationalsozialisten angekommen (hier genügt der Hinweis auf entsprechende Untersuchungen der Nazi-Sprache durch Victor Klemperer: LTI (= »Lingua Tertiae Imperii«: »Die Sprache des Dritten Reiches«), Dolf Sternberger: »Das Wörterbuch des Unmenschen« und Theodor W. Adorno: »Der autoritäre Charakter«.

(...) Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß diese strafrechtsrelevanten Unterstellungen des Bundesministers offenkundig dazu dienen sollen, weitere schwerste Rechtsverstöße zu »rechtfertigen«, zum Beispiel, in der Gestalt sogenannter Hausbesuche, das Recht auf »Unverletzlichkeit der Wohnung« (Artikel 13 Grundgesetz) aufzuheben. (...)

Deshalb erstatte ich in meiner Eigenschaft als Staatsbürger unseres Landes Strafanzeige wegen des Verdachts der Volksverhetzung und als selber betroffener ALG-II-Bezieher Anzeige wegen Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung.

Sabine Lösing,

Dipl.Sozialwirtin/ Sozialtharapeutin, Geschäftsführender Bundesvorstand WASG

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Betrug und Irrtum

Hartz IV wird viel teurer als gedacht. Daran sind weniger die Sozialbetrüger schuld als die Gesetzgeber. Sie haben schlampig gearbeitet

Von Kolja Rudzio

Quelle: Die Zeit vom 27. Oktober 2005

Ist eine Große Koalition zu großen Reformen fähig? Wer Hartz IV als Indiz nimmt, muss Schlimmes fürchten, immerhin wurde die Arbeitsmarktreform vor zwei Jahren faktisch von einer Großen Koalition beschlossen. Damals einigte sich die SPD-geführte Bundesregierung mit den unionsgeführten Ländern auf einen Kompromiss. Herausgekommen ist ein Gesetz, das voller handwerklicher Fehler steckt und seine wichtigsten Ziele bisher verfehlt. Während die versprochene bessere Förderung und Vermittlung der Arbeitslosen auf sich warten lässt, laufen die Kosten aus dem Ruder. Ursprünglich sollte die Reform die Staatskasse entlasten, inzwischen entpuppt sie sich als Sprengsatz für den Bundeshaushalt. Ein »unfreiwilliges Konjunkturprogramm« nennt das der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering.

Neuere Daten belegen: Die Reform wird nicht nur teurer als erwartet und nicht nur teuer für den Bund – Hartz IV kostet den Steuerzahler auch insgesamt mehr Geld als das alte System aus Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Aus einer 34-seitigen »Be- und Entlastungsrechnung«, die die Bundesregierung erstellt hat, ergibt sich: Die Kommunen werden durch die Reform im Vergleich zum Vorjahr mit 340 Millionen Euro belastet, die Länder sparen 3,3 Milliarden Euro (die sie an die Kommunen weiterreichen sollen). Der Bund wiederum dürfte, wenn seine zuletzt veröffentlichten Prognosen zutreffen, 7,1 Milliarden Euro mehr ausgeben. Unter dem Strich hieße das: Der Staat zahlt gegenüber dem alten System rund 4,5 Milliarden Euro drauf.

Und das ist nur der niedrigste anzunehmende Wert, denn er berücksichtigt keine Eingliederungsmaßnahmen, etwa die »Ein-Euro-Jobs«, und er beruht auf Angaben der Bundesregierung. Die hat aber handfeste Gründe, die Bilanz der Städte, Kreise und Länder schönzurechnen. Schließlich stehen Verhandlungen an, in denen die Lastenverteilung der Hartz-IV-Reform nachjustiert werden soll. Legt man Zahlen zugrunde, die von den Kommunen und Ländern ermittelt wurden und in einem Papier des Deutschen Landkreistages zusammengefasst sind, ergibt sich ein noch dramatischeres Bild. Dann muss die öffentliche Hand für Hartz IV sogar 8,5 Milliarden Euro mehr hinblättern als unter den alten Regeln.

Reformgegner wie Reformbefürworter reiben sich angesichts solcher Zahlen die Augen: Wie kann es sein, dass Hartz IV Unsummen verschlingt, obwohl die Leistungen für viele Arbeitslose gekürzt wurden? Hieß doch das Schlagwort »Armut per Gesetz«, als Zehntausende im Sommer 2004 gegen die Reform auf die Straße gingen. Tatsächlich zeigen aktuelle Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, dass sich die meisten Arbeitslosen mit Hartz IV deutlich schlechter stehen als früher mit der Arbeitslosenhilfe. Es gibt aber auch Gewinner. Das sind vor allem Geringverdiener, die eine niedrige Arbeitslosenhilfe bezogen haben und eigentlich Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe oder Wohngeld gehabt hätten, diesen aber nie geltend machten. Im neuen System bekommen sie alles aus einer Hand und daher auch alle Leistungen. Das sind keine Einzelfälle, sondern das betrifft nach Angaben des Instituts, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört, einige hunderttausend Haushalte.

Insgesamt müsste der Staat nach diesen Berechnungen Geld sparen. Die Studie hat jedoch einen Haken. Sie rechnet nur vor, wie sich die Reform auf die Arbeitslosenhilfeempfänger ausgewirkt haben müsste, an deren Situation sich nichts Grundlegendes geändert hat. Nicht berücksichtigt sind daher Paare, die sich trennen, jugendliche Arbeitslose, die bei ihren Eltern ausziehen, oder völlig neue Antragsteller.

Genau solche Veränderungen haben aber zur Kostenexplosion von Hartz IV beigetragen. Mit 2,52 Millionen Bedarfsgemeinschaften plante die Bundesregierung im vergangenen Jahr noch. Tatsächlich waren es zum Jahresbeginn schon 3,3 Millionen. Ende September wurde nach vorläufigen Daten ein neuer Rekord verzeichnet – mit knapp 3,7 Millionen Bedarfsgemeinschaften. Zu völlig unrealistischen Prognosen kommt also ein immer noch anhaltender Zustrom neuer Bedürftiger.

Massenhaften »Sozialbetrug« und »parasitäres Verhalten« vermutet der scheidende Wirtschaftsminister Wolfgang Clement dahinter. Bis zu zwanzig Prozent aller Alg-II-Empfänger kassierten zu Unrecht Geld vom Staat. Parallel dazu veröffentlichte sein Ministerium einen Report vom Arbeitsmarkt, in dem auf 33 Seiten ausführlich Betrugsfälle geschildert werden. Da taucht ein »Dieter Schuster« auf (die Namen sind erfunden), der halbnackt auf dem Balkon einer angeblich allein lebenden Alg-II-Empfängerin angetroffen wurde, sich aber als ihr Lebensgefährte herausstellte. Da wird ein »Bernd Wollschläger« vorgestellt, der sich als bedürftig ausgab, obwohl er die Baufirma seiner Frau leitete. Und da wird berichtet, wie ausländische Sozialhilfeempfänger deutsches Arbeitslosengeld einstreichen könnten – weil die Behörden auf Kontrollen verzichteten, wie das Behörden-Papier beklagt.

Welchen Umfang der Missbrauch hat, darüber steht in dem Report jedoch nichts. Clement stützt sich bei seinen Schätzungen auf »Stichproben« und die Ergebnisse eine Telefonaktion der Bundesagentur für Arbeit. Dort heißt es aber, man verfüge nicht über Zahlen zum Missbrauch, und auch die angeführte Telefonbefragung ließe sich so nicht interpretieren. Sie habe einem ganz anderen Zweck gedient. Denn bei dieser – freiwilligen, nicht repräsentativen – Umfrage wurden Alg-II-Empfänger angerufen, bei denen Unklarheiten über den Arbeitslosenstatus bestanden. So gebe es etwa Alleinerziehende mit kleinen Kindern, die in der Statistik als arbeitslos geführt würden, obwohl sie im Moment gar nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Sie erhielten dann zu Recht Arbeitslosengeld II, müssten aber in der Arbeitsmarktstatistik anders erfasst werden.

»Dürftig und peinlich« nennt Schleswig-Holsteins Arbeitsminister Uwe Döring (SPD) die Kampagne der scheidenden Bundesregierung. »Erst waren es die Kommunen, die Geld zurückzahlen sollten. Nun sind es die Alg-II-Empfänger, die angeblich massenhaft Betrug begangen haben.« Jürgen Borchert, Landessozialrichter in Darmstadt, wundert sich: »Bei uns kommen diese Missbrauchsfälle irgendwie nicht an.« Stattdessen sehe er sich nicht selten einer »sehr problematischen Verwaltungspraxis« gegenüber: »Wir haben umgekehrt zahlreiche Fälle, in denen Leuten die ihnen zustehenden Mietzahlungen verweigert werden.«

Auch Stephan Articus, Geschäftsführer des Deutschen Städtetages, hält Betrug nicht für das Kernproblem. »Für die Kostenexplosion beim Arbeitslosengeld II gibt es eine Reihe von Gründen, Missbrauch ist aber sicher nicht die Hauptursache.« Der Gesetzgeber, sagt Articus, habe »zu großzügige Möglichkeiten geschaffen, Haushalte aufzusplitten«. Soll heißen: Auch ohne Betrug ist es möglich, die Hilfsleistungen maximal auszureizen.

So können etwa junge Arbeitslose aus dem elterlichen Haushalt ausziehen und haben dann einen eigenen Anspruch auf das volle Arbeitslosengeld und die Wohnungskosten. Auch unverheiratete Paare profitieren, wenn sie sich trennen. Sie umgehen damit, dass sie mit ihrem Einkommen – stärker als früher in der Arbeitslosenhilfe – füreinander in die Pflicht genommen werden. Experten sprechen von einer »Zellteilung«, die sie beobachten. Seit Jahresbeginn ist die Zahl der Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften auffällig gestiegen: von knapp 1,9 Millionen auf etwa 2,1 Millionen.

Ein anderes Problem sind veränderte Einkommens- und Vermögensgrenzen, bis zu denen jemand als bedürftig gilt. So durfte etwa bei der alten Sozialhilfe ein Ehepaar (beide 26 Jahre alt) mit einem minderjährigen Kind nicht mehr als 2149 Euro auf dem Konto haben, um Geld vom Staat zu bekommen. Beim Arbeitslosengeld II dagegen hat die gleiche Familie noch bei einem Vermögen von bis zu 16750 Euro Anspruch auf Hilfe (ohne Berücksichtigung von Altersvorsorge oder Eigenheim). Die höheren Sätze gelten auch, wenn geprüft wird, ob Eltern für ihre arbeitslosen Kinder aufkommen müssen.

Selbst geringe Änderungen solcher Freigrenzen können aber gewaltige Auswirkungen haben, sagt Markus Keller, Sozialexperte beim Deutschen Landkreistag. »Studien aus den achtziger und neunziger Jahren haben gezeigt, dass schon eine Veränderung von Schwellenwerten um fünf Prozent dazu führen kann, dass der Kreis der Berechtigten um 20 Prozent wächst.«

Neben allen Reformproblemen dürfte schließlich auch die anhaltend schlechte Wirtschaftslage zum Kostenanstieg beigetragen haben. Schon in den vergangenen Jahren wuchs die Zahl der Arbeitslosenhilfeempfänger stark an.

Bisher sei alles »Kasuistik«, sagt Helmut Rudolph vom IAB in Nürnberg. »Alle möglichen Beispiele und Einzelfälle werden jetzt als Erklärung für die steigenden Kosten von Hartz IV kolportiert, aber wir wissen nicht, welche Faktoren wirklich ausschlaggebend sind«. Politiker hätten »gerne einfache Erklärungen und Journalisten gerne eine schöne Schlagzeile«, sagt der Wissenschaftler, doch die Thematik sei kompliziert.

In den Berliner Koalitionsgesprächen wird indes schon verhandelt, wie die gemeinsam verabschiedete Reform wieder reformiert werden soll. Die SPD-Seite will vor allem die Missbrauchsmöglichkeiten einschränken. Kanzleranwärterin Angela Merkel hält dagegen: »Es wird nicht reichen, nur den Missbrauch in den Mittelpunkt zu stellen. Wir müssen uns vielmehr mit den prinzipiellen Konstruktionsschwächen beschäftigen«, erklärte sie im Interview mit Bild am Sonntag.

Vor allem sollen wieder verstärkt die Familien in Anspruch genommen werden, wenn ein Angehöriger bedürftig wird. Dahinter steckt – ebenso wie bei der ursprünglichen Änderung – kein großer gesamtgesellschaftlicher Entwurf über die richtige Aufgabenteilung zwischen Bürger und Staat. Dahinter steckt die pure Not der öffentlichen Kassen.

Mitarbeit: Ulrike Meyer-Timpe

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Inland

»Hartz IV«Geiferer des Tages

Hermann Rappe

Quelle: junge Welt vom 27. Oktober 2005

Eine besonders unangenehme Gattung innerhalb der politischen Klasse sind jene Untoten, die es trotz fortgeschrittenen Alters und deutlicher Senilität offenbar nicht ertragen können, nicht mehr in der Zeitung zu stehen. Nein, wir müssen heute nicht über Manfred Stolpe reden, sondern über Hermann Rappe. Der 76jährige frühere IG-Chemie-Vorsitzende und Dauer-SPD-Bundestagsabgeordnete (26 Jahre) geistert seit einem knappen Jahr zusammen mit dem ähnlich konditionierten Kurt Biedenkopf (CDU) als »Ombudsrat für die Hartz-IV-Reformen« durch die Medien.

Unter Ombudsräten werden gemeinhin Menschen verstanden, die unabhängig von politischer oder lobbyistischer Einflußnahme die Interessen potentiell oder real Benachteiligter vertreten. Das wäre von einem rechten SPD- und Gewerkschaftsapparatschik aber sicherlich zu viel verlangt. Und so geiferte sich der greise Multipensionär am Mittwoch ganz Herrenmensch-like durch die Chemnitzer Freie Presse. In Wohngemeinschaften und bei Untermietern solle endlich energischer rumgeschnüffelt werden, um den »Mißbrauch« von »Hartz IV«-Leistungen zu unterbinden. Und bei unbotmäßigem Verhalten der Empfänger müßten die Zahlungen gekürzt werden. Dagegen komme eine Erhöhung der Regelsätze natürlich genauso wenig in Frage wie eine Lockerung bei der Anrechnung von Partnereinkommen.

So weit, so asozial. Aber Alter ist ebenso wie Jugend kein Freifahrtschein für Dumm- und Gemeinheiten. Wenn sich die Satten der Republik aus dem Fenster lehnen, um die Hungrigen anzupöbeln, wird es Zeit, sie sich ordentlich zur Brust zu nehmen. Vielleicht finden sich in der Gewerkschaft, der Rappe immer noch angehört, ein paar Aufrechte, die seinen Rausschmiß beantragen. Auf sein Ziehkind und seinen Nachfolger im Vorstandssessel, Hubertus Schmoldt, darf man dabei allerdings nicht hoffen. Denn der war einer der ersten Gewerkschaftsführer, der die unter »Hartz IV« zusammengefaßten Regularien für Massenverarmung, Entwürdigung und Zwangsarbeit öffentlich lobte.

(balc)

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Die Debatte um Hartz-IV-Missbrauch gefährdet Verbesserungen

Unglückselige Schubumkehr

Kommentar

Von Ulrike Winkelmann

Quelle: taz vom 27. Oktober 2005

Eine Art Schubumkehr hat in der Hartz-IV-Diskussion stattgefunden. Bis vor zwei Wochen war es klar, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe große Härten mit sich brachte, die in einem sorgsamen Revisionsprozess ausgeglichen werden müssten. Erster Schritt war die zum 1. Oktober eingeführte Erweiterung der Möglichkeiten, sich ein Zubrot zu verdienen.

Von den Koalitionsverhandlungen wurde erwartet, dass auch dort über Verbesserungen für ältere Arbeitnehmer oder die Angleichung der Arbeitslosengeld-II-Sätze Ost und West geredet werde. Die große Koalition werde es sich doch wohl nicht nehmen lassen, neben absehbaren Zumutungen wenigstens das Monster Hartz IV aufzuhübschen.

Nichts dergleichen. Arbeitsminister Wolfgang Clement veröffentlicht als letzte Amtshandlung eine Broschüre, die mit reißerischer Propaganda nur diplomatisch beschrieben ist. Frei von Zahlen wird dort behauptet, dass das Hartz-IV-Gesetz vom lotterlebigen Volk missbraucht werde. An den Koalitionsarbeitstischen starren die Verhandler derweil in ein Finanzloch: Hartz IV kostet 12 Milliarden Euro mehr als geplant.

Die beiden Botschaften werden jetzt bewusst vermengt: Hartz IV ist zu teuer geworden, schuld sind die Arbeitslosen, die abzocken. An diesem durchsichtigen Theaterstück beteiligen sich mittlerweile sogar die Kronzeugen der Hartz-Abmilderungs-Ära: Gestern erklärte einer der drei Ombudsräte, der noch im Sommer etwa für eine Angleichung der Ost-West-Regelsätze plädierte, nun seien aber wirklich schärfere Kontrollen nötig. Wer so redet, riskiert, dass bald nicht nur die Zahl der Empfänger von Hilfe zur Debatte steht, sondern auch die Höhe des Regelsatzes noch einmal angegriffen wird.

Derart irrationales Verhalten wäre mit begütigender Küchenpsychologie zu erklären - Schuldprojektionen und so weiter -, handelte es sich nicht um Politiker. Diese Leute wissen, womit sie der Öffentlichkeit einheizen müssen, um Zustimmung für weitere Kürzungen zu bekommen. Die Figur des Sozialmissbrauchers ist offenbar international patentiert - in den USA war es die "Welfare Queen" -, um den Schwächsten der Gesellschaft das Mitgefühl der Stärkeren zu rauben. Wie ekelhaft, dass die deutschen Sozialdemokraten das mitmachen - statt sich einzugestehen, dass Hartz IV ein schlechtes Gesetz auf schlechter statistischer Basis war, das schlecht umgesetzt wurde.

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Die Parasiten wohnen anderswo

Die Koalitionäre wollen für die gigantischen Mehrkosten von Hartz IV junge Leute verantwortlich machen, die ausziehen und ALG II bekommen. Mit den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ist das allerdings nicht belegbar

Von Ulrike Winkelmann

Quelle: taz vom 27. Oktober 2005

BERLIN taz - In den Chor derer, die nun die Arbeitslosen für die Kostenexplosion bei Hartz IV verantwortlich machen, stimmte gestern Hermann Rappe ein. Rappe, Ex-IG-Chemie-Chef, gehört zum "Ombudsrat" für die Hartz-IV-Reform, mit der zu Beginn des Jahres die Arbeitslosen- und die Sozialhilfe zusammengelegt wurden. Wegen der "ungewöhnlichen Zellteilung" bei den Bedarfsgemeinschaften verlangte Rappe stärkere Kontrollen.

"Bedarfsgemeinschaften" sind die Lebensgemeinschaften, in denen Langzeitarbeitslose leben - also Familien oder eheähnliche Partnerschaften. Mit der "Zellteilung" meint Rappe, dass mit Hartz IV sehr viele Arbeitslose einen eigenen Haushalt gegründet hätten, um in den vollständigen Genuss staatlicher Unterstützung zu kommen - und sich nicht von Partner, Partnerin oder Eltern aushalten zu lassen.

Dies entspricht seit zwei Wochen der öffentlichen Gerüchtelage. Die Vermutung: Die gesamte Arbeitsmarktreform Hartz IV, deren Kosten für dieses Jahr mit 14 Milliarden Euro veranschlagt wurden, wird deshalb viel teurer als gedacht, weil sich allzu viele Arbeitslose aus ihren Bedarfsgemeinschaften lösen. Junge Leute zögen von ihren Eltern weg, um mit dem Regelsatz - 345 Euro West, 331 Euro Ost - und der Mietunterstützung vom Staat ein eigenständiges Leben zu beginnen. Paare, die früher Arbeitslosenhilfe bekamen und zusammenlebten, beziehen jetzt lieber getrennte Wohnungen oder geben das vor, um die Unterstützung einzusammeln.

Arbeitsminister Wolfgang Clement hat dies mit den Worten "Missbrauch" und "parasitäres Verhalten" bezeichnet. Verschiedene Zahlen machen die Runde, zu wie viel Prozent das ALG II "abgezockt" werde: 4 Prozent, 10 oder 20. Nur so lasse sich erklären, dass Hartz IV dieses Jahr voraussichtlich statt 14 Milliarden Euro 26 Milliarden kostet und deshalb den Verhandlern der Koalitionsarbeitsgruppe "Arbeit" am nächsten Dienstag noch Kopfschmerzen bereiten wird.

Bis dahin lassen sich die Koalitionäre von Union und SPD hoffentlich noch einmal die Zahlen aus der Bundesagentur für Arbeit (BA) kommen. Denn die BA-Statistik zu den Bedarfsgemeinschaften gibt einen Beweis für "Zellteilung" nicht her. Wäre es wahr, dass Partner und Kinder ausziehen, müsste ja die Zahl der "1-Personen-Gemeinschaften" zugenommen haben. Doch das ist nicht belegbar. Im Januar zählte die BA 1.855.000 "1-Personen-Gemeinschaften" - im März 2.005.000. Für den Juni gibt's nur vorläufige Zahlen, doch demnach haben die 1-Personen-Haushalte jedenfalls nicht zugenommen.

Der messbare Zuwachs der 1-Personen-Haushalte beträgt also 150.000. Veranschlagt man die Kosten jedes Haushalts für den Steuerzahler mit dem Durchschnittswert von 840 Euro, so entspricht dies Mehrkosten von 125 Millionen Euro. Das ist rund ein Hundertstel des diesjährigen Planungsfehlbetrags.

Die geleugnete Partnerschaft sowie die Kinder, die Mamas und Papas Haus verlassen und es sich lieber auf Staatskosten in einer eigenen Wohnung gemütlich machen, mag es geben - viele können es laut Statistik nicht sein. Dennoch ist die erste Maßnahme, die bei SPD wie bei der Union für den Koalitionsvertrag vorgeschlagen wird, die Unterhaltsverpflichtung der Eltern für erwachsene Kinder wieder einzuführen. Karl-Josef Laumann, einer der wenigen verbliebenen Sozialpolitiker der CDU, ruft danach. Der Arbeitsminister in spe Franz Müntefering hat in diese Richtung gestikuliert.

Der grüne Sozialpolitiker Markus Kurth kritisiert den Angriff auf die Selbstständigkeit junger Leute. "Das wäre die totale Durchsetzung der Sippenhaftung in der deutschen Sozialpolitik", sagte Kurth zu taz. "Die große Koalition fiele hinter Bismarck zurück." Man könne nicht Flexibilität und Mobilität einerseits fordern und andererseits den individuellen Hilfeanspruch verweigern. Nicht zuletzt sei die Selbstständigkeit junger Leute durchaus Gegenstand des rot-grünen Hartz-IV-Plans gewesen.

Rätselhaft bleibt nach alldem weiterhin, wie es zu der gigantischen Lücke zwischen Finanzplan und Finanzrealität kommen konnte. Aus der BA heißt es: "Die haben von vornherein falsche Vorstellung über die wahre Zahl der Arbeitslosen und deren Kosten zugrunde gelegt."

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Inland

Clement beschimpft Arbeitslose

Angeblich 20 Prozent Mißbrauchsquote bei »Hartz IV«. Kritik vom Wohlfahrtsverband

Quelle: junge Welt vom 25. Oktober 2005

Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement hat die Quote der Mißbrauchsfälle bei Arbeitslosengeld-II-Beziehern auf 20 Prozent beziffert. Als einen der Hauptgründe nannte der SPD-Politiker in der Zeitung Die Welt die scheinbare Trennung von Bedarfsgemeinschaften, die zu erheblichen Mehrausgaben führe. Dies wurde von der Bundesagentur für Arbeit bestätigt. Auf Widerspruch stieß Clement dagegen bei Sozialverbänden und in der SPD.

»Ich schätze, daß rund 20 Prozent der Menschen, die das Arbeitslosengeld II beziehen, nicht anspruchsberechtigt sind«, sagte Clement der Zeitung. Stichproben hätten gezeigt, daß zehn Prozent der Empfänger das Arbeitslosengeld II zu Unrecht bekämen. Hinzu kämen 20 Prozent Bezieher, die entweder telefonisch nicht erreichbar seien oder eine Antwort verweigerten. »Schlicht nicht in Ordnung« ist laut Clement das Aufsplitten von Partnerschaften und familiären Bindungen.

Der Minister, der der neuen Regierung nicht angehören wird, stellte Gegenmaßnahmen in Aussicht. So will er dem Bericht zufolge in den Koalitionsverhandlungen noch durchsetzen, daß Arbeitslose unter 25 Jahren, die noch keine abgeschlossene Ausbildung haben, zur Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern zählen. Sie würden dann nur noch 80 Prozent des Regelsatzes erhalten.

Nach den Worten des stellvertretenden Verwaltungsratsvorsitzenden der Bundesagentur, Peter Clever, hat die Arbeitsbehörde von insgesamt 390000 Kontaktversuchen 170000 Arbeitslosengeld-II-Bezieher auch nach zehnmaligem Anruf telefonisch gar nicht erreicht. »Da muß also wirklich nur ein sehr Naiver glauben, daß alle diese 170000 gerade in Vorstellungsgesprächen waren«, sagte Clever im Deutschlandfunk. Wer die legale Möglichkeit nutze, sich formal von Partner oder Familie zu trennen, tue nichts Unrechtes. Daher sei hier der Gesetzgeber gefragt. Die allgemeine Betrugsquote überschreitet laut Clever »sicherlich die Grenze von zehn Prozent«.

Indessen warf der Paritätische Wohlfahrtsverband Clement »unseriöse Stimmungsmache« vor. Die von ihm ins Feld geführte Telefonaktion lasse keinerlei statistische Rückschlüsse auf das tatsächliche Mißbrauchsverhalten oder gar eine Mißbrauchsquote zu. Der Verband forderte Clement auf, »die Verbreitung derartiger Horrorzahlen einzustellen«.

(AP/jW)

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Abfällige Sprache

Quelle: taz vom 21. Oktober 2005

"Die Hemmschwelle für Sozialbetrug ist offensichtlich bei Einigen gesunken, seitdem die Arbeitsverwaltung Sozialleistungen auszahlt und nicht mehr das Sozialamt. (…) Ohne Anstand und Moral kann die Erneuerung unseres Sozialstaates nicht gelingen. (…) Die Überweisung für Miete und Heizung bildet somit für die meisten Langzeitarbeitslosen die zweite Säule des Haushaltseinkommens. Mehrere hundert Euro im Monat - eine hübsche Summe -, das verleitet vermeintlich findige Zeitgenossen immer wieder dazu, die Sozialkassen anzuzapfen. (…)

Ibrahim, ein Sänger aus dem Libanon, bezieht in Ludwigshafen Arbeitslosengeld II. Das neuwertige, schwarze BMW-Cabrio, das ihm gehört und vor seiner Wohnung steht, kann er von diesen Einnahmen nicht bezahlt haben. (…) Biologen verwenden für ,Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten - leben' übereinstimmend die Bezeichnung ,Parasiten'. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert. Wer den Grundstock seinen Haushaltseinkommens bei der Arbeitsagentur (…) kassiert und (…) nebenher schwarz arbeitet, handelt deshalb besonders verwerflich".
(aus der Broschüre: "Vorrang für die Anständigen" vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit)

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Clements letzter Amoklauf im Amt

Bei seinen Vorstößen gegen vermeintlichen Sozialbetrug gerät das Arbeitsministerium unter Beschuss. "Zehn Prozent" an Missbrauchsfällen sind nicht belegt. Broschüre, die von "Parasiten" spricht, sollte bewusst "journalistische Sprache" verwenden

Von Barbara Dribbusch

Quelle: taz vom 21. Oktober 2005

Während die Arbeitslosenzahlen auf Rekordhöhe verharren, hat sich die politische Diskussion über die Erwerbslosen in ungeahnte Tiefen begeben. Nachdem sich ein so genannter Report des Arbeitsministeriums über den angeblichen Sozialmissbrauch von Langzeitarbeitslosen als zweifelhaftes Machwerk entpuppte, erweisen sich jetzt auch vom Ministerium verbreitete Statistiken als unzulässig.

Der amtierende Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) hatte beklagt, dass laut Stichproben bis zu zehn Prozent der Arbeitslosengeld-II-Empfänger die Leistung zu Unrecht beziehen. Der Vizeverwaltungsratschef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Peter Clever, hatte zuletzt sogar von einer "Missbrauchsquote" von "über zehn Prozent" gesprochen.

Dabei hatte sich Clever auf eine Telefonaktion der BA bezogen, in deren Zuge 390.000 Empfänger des Arbeitslosengeld II (ALG II) von Behördenmitarbeitern angerufen wurden. 170.000 der Empfänger waren telefonisch nicht erreichbar. 43.000 lehnten eine Befragung am Telefon ab. Bei sieben Prozent der übrigen Angerufenen stellte sich heraus, dass sie nicht arbeitslos waren.

Die Telefonaktion als Grundlage einer generellen Einschätzung für alle Langzeitarbeitslosen zu nehmen, sei jedoch unzulässig, kritisierte Markus Kurth, Arbeitsmarktexperte der Grünen im Bundestag, im Gespräch mit der taz. Die von der BA angerufenen 390.000 Langzeitsarbeitslosen seien nämlich keine repräsentative Stichprobe, sondern eine bestimmte Auswahl gewesen. Dabei habe es sich um Leute gehandelt, die sich lange nicht mehr bei der Arbeitsagentur gemeldet hätten und deren Verbleib unklar gewesen sei. Auch eine Sprecherin der BA bestätigte, dass die Telefonumfrage "nicht repräsentativ" sei.

In zunehmende Kritik gerät auch der so genannte Report vom Arbeitsmarkt unter dem Titel "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, ,Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat", der vom Clement-Ministerium herausgegeben wurde. Sozialverbände kritisierten die 33-seitige Broschüre vor allem wegen der Sprachwahl, die Langzeitarbeitslose in die Nähe von "Parasiten" rückt (siehe Kasten).

Man habe für die Schrift Medienberichte über Sozialbetrug ausgewertet und durch eine externe Journalistin in den Arbeitsagenturen Missbrauchsfälle prüfen lassen, erklärte Andrea Weinert, Sprecherin im Bundesministerium für Arbeit, auf Anfrage. Man habe sich dabei bewusst "einer journalistischen Sprache" bedient, um "mehr Aufmerksamkeit zu erzielen". In dem "Report" finden sich keine Daten, sondern lediglich Einzelfälle. Die reißerische Aufmachung sei "unter Niveau", rügte Kurth.

Die Vizechefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Ursula Engelen-Kefer, sagte der taz, man könne vermuten, dass die Kampagne gegen den Sozialmissbrauch auch deswegen gefahren werde, um das Leistungsniveau für die Empfänger von Arbeitslosengeld II zu verschlechtern. Dabei sei auch die Wiedereinführung des Unterhaltsrückgriffes zu befürchten. Der Unterhaltsrückgriff sieht vor, dass die Einkommen von Eltern oder Kindern für Bezieher von Arbeitslosengeld II herangezogen werden. Ein solcher Rückgriff galt für die Empfänger von Sozialhilfe, wurde aber für Arbeitslosengeld-II-Bezieher, die nicht im Haushalt der Verwandten leben, abgeschafft.

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Inland

Bundesweite Empörung über Clement

Immer mehr Strafanzeigen gegen SPD-Politiker. Datenschutzbeauftragter kritisiert Telefonaktion der BA

Von Peter Wolter

Quelle: junge Welt vom 21. Oktober 2005

Die Kritik an der Kampagne der Bundesregierung gegen ALG-II-Bezieher reißt nicht ab. Gegen den bisherigen Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) liegen mittlerweile mehrere Strafanzeigen wegen Volksverhetzung und Beleidigung vor. Auch der Versuch der Bundesagentur für Arbeit (BA), Hunderttausende ALG-II-Bezieher telefonisch zu kontrollieren, stieß auf scharfe Ablehnung. Während vor allem Boulevardzeitungen weiter auf Arbeitslose und Sozialhilfeabhängige einprügelten, befaßte sich das ARD-Morgenmagazin am Donnerstag ausführlich und kritisch mit Clements Kampagne.

In einem vom Arbeits- und Wirtschaftsministerium herausgegebenen Text waren Arbeitslose in die Nähe von Abzockern, Sozialbetrügern und »Parasiten« gerückt worden. Bereits am Tag, nachdem junge Welt darüber berichtet hatte, gingen mehrere Strafanzeigen gegen den verantwortlichen Minister ein. In einer Mail des Bündnisses »3Ländereck für soziale Gerechtigkeit« in Höxter hieß es am Donnerstag: »Ich möchte Ihnen nur sagen, daß uns am Montag die Folgen dieser Volksverhetzung durchaus schon trafen. Zu unserer wöchentlichen Montagsaktion wurden wir von vier jungen Männern auf das übelste beschimpft und verhöhnt. ... Nach meinem neuesten Informationsstand gingen heute über 80 Strafanzeigen ein, von Betroffenen, aber auch von solidarisch denkenden Bürgern.« Das Bündnis bietet auf seiner Internetseite ein Formular für Strafanzeigen an, das nur noch ausgefüllt und abgeschickt werden muß.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar schloß sich am Donnerstag der Kritik an der Telefonaktion der BA an. Er warf der Bundesregierung in der Passauer Neuen Presse vor, gegen den Datenschutz zu verstoßen. »Telefonanrufe ohne vorherige Information sind nicht in Ordnung«, erklärte Schaar und forderte die BA auf, vor der nächsten Anrufwelle die Betroffenen zu informieren und sie auf ihre Rechte hinzuweisen. Kritisch hatten sich auch die stellvertretende DGB-Chefin Ursula Engelen-Kefer, der Sozialverband VDK, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband sowie Abgeordnete von Linkspartei und Grünen geäußert. Sabine Lösing, eine der vier Bundesvorsitzenden der WASG, kündigte gegenüber jW an, daß ihre Partei gegen diese Diffamierungskampagne Front machen werde.

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Kommentar

Fader Geschmack

Sozialschmarotzer als Sündenböcke der Nation?

Von Kolja Rudzio

Quelle: Die Zeit vom 20. Oktober 2005

Sie heißen Andreas, Sandra oder Ibrahim. Und sie nutzen jedes Schlupfloch, um sich auf Kosten des Sozialstaates zu bereichern. Hartz-IV-Empfänger, die mit tausend Tricks und Täuschungen Geld vom Staat kassieren, ohne bedürftig zu sein. Massenhaft wird bei Hartz IV betrogen – es ist der reinste »Missbrauch per Gesetz«. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls ein jüngst erschienener Report vom Arbeitsmarkt, veröffentlicht vom Bundesarbeitsministerium, geadelt mit einem Vorwort des Ministers und abgeschrieben von den Boulevardjournalisten der Bild-Zeitung, die sich flugs über die »Hartz-IV-Schmarotzer« empören (»ES MACHT SO WÜTEND!«).

Wütend machen kann einen der Regierungsreport allerdings. Denn er ist klar zu erkennen als Versuch, vom eigenen Versagen abzulenken. Die Kosten der Hartz-IV-Reform laufen aus dem Ruder, schuldig gesprochen werden die Sozialtrickser. Dabei liefert der Report zwar viele Beispiele für Missbrauch, aber keinen Beleg dafür, dass bei Hartz IV mehr getrickst wird als sonst wo – etwa bei der Sozialhilfe oder beim Volkssport Steuerhinterziehung. Insofern darf man sich über Abzocker bei Hartz IV genauso sehr oder genauso wenig erregen wie über Abzocker anderer Leistungen. Sie aber mit »Parasiten« zu vergleichen, wie in dem Report geschehen, überschreitet jede Grenze.

Für die Kostenexplosion bei Hartz IV gibt es ein Dutzend Gründe. Drei davon: Die Bedürftigkeitsgrenze wurde angehoben, weshalb jetzt mehr Menschen Anspruch auf staatliche Hilfe haben. Eine Trennung oder der Auszug aus dem Elternhaus wird belohnt – mit einem eigenen Anspruch auf Unterstützung. Und: Die Prognosen über die Zahl der Empfänger waren unrealistisch niedrig. Nun mit einem Pamphlet Stimmung zu machen wirkt lediglich fadenscheinig. Ein schwacher Abgang für Wolfgang Clement.

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Inland

Abgeschrieben

Strafanzeige gegen den ehemaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement

Quelle: junge Welt vom 20. Oktober 2005

* Dagmar H. aus München hat am Mittwoch gegen den ehemaligen Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, Strafanzeige wegen Volksverhetzung gestellt:

An: Justizbehörden Berlin, Staatsanwaltschaft, Turmstr. 91, 10559 Berlin

Betrifft: Strafanzeige wegen Volksverhetzung

Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit stelle ich Strafanzeige wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB) gegen Wolfgang Clement, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit.

In dem vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit herausgegebenen und öffentlich zugänglichen Report aus dem August 2005 mit dem Titel »Vorrang für die Anständigen« (im Internet als .pdf-Datei zu finden unter http://www.bmwa.bund.de/Navigation/Service/bestellservice,did=78268.html) findet sich auf Seite 10 folgende Passage: »Ibrahim, ein Sänger aus dem Libanon, bezieht in Ludwigshafen Arbeitslosengeld II. Das neuwertige schwarze BMW Cabrio, das ihm gehört und vor seiner Wohnung steht, kann er von diesem Einkommen nicht bezahlt haben. Ermittler Hans-Jürgen Hoes verfügt über konkrete Hinweise, daß Ibrahim bei Hochzeiten und anderen Festen auftritt und beträchtliche Gagen kassiert, die er bei der ARGE nicht angibt: ›Der hat sogar einen Manager.‹ Beim Kontrollbesuch jammert Ibrahim dem Prüfer vor, daß das Auto noch aus besseren Zeiten stamme und nur geleast sei. ›Ich liebe Musik, ich muß singen‹, erklärt er – aber nicht auf Kosten des Sozialstaats, wie ihn der Ermittler belehrt.

Biologen verwenden für ›Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben‹, übereinstimmend die Bezeichnung ›Parasiten‹. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des einzelnen gesteuert.«

Schon im ersten Absatz wird die Verächtlichmachung und Verleumdung sowohl der ALG-II-Empfänger als auch arabischstämmiger Migranten angelegt; Ibrahim (der nur einen Vornamen hat, im Gegensatz zum Ermittler) jammert, und er wird vom Ermittler belehrt. Im zweiten Absatz wird allerdings auf einen Begriff Bezug genommen, der nach 1945 aus offiziellem deutschen Sprachgebrauch für immer verschwunden sein sollte – den des »Parasiten am Volkskörper«, ein zentraler Begriff der Rassenpropaganda der NSDAP und ein Bestandteil der geistigen Vorbereitung des Holocaust. Die folgenden beiden Sätze stellen mitnichten eine Distanzierung vom Begriff des »Parasiten« dar, sondern verschärfen ihn noch, da der »menschliche Parasit« ja aus freiem Willen parasitär sei und somit moralisch verwerflicher als der tierische.

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte kann eine solche Formulierung auf keinen Fall geduldet werden. Da sie einen Teil der Bevölkerung (im Zusammenhang des Berichts wie auch der Verlautbarungen des Herrn Ministers Clement nicht nur »Ibrahim«, sondern die Empfänger von ALG II in ihrer Gesamtheit) mit Tieren gleichsetzt, und zwar einer Art von Tieren, deren Vernichtung angebracht scheint, die Menschenwürde der Betroffenen also unverkennbar angreift; da der Text, in dem sich diese Formulierung findet, öffentlich zugänglich ist, auch für Personen unter 18 Jahren, und über das Internet verbreitet wird, ist der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt.

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Titel

Volksverhetzer angezeigt

»Parasiten«-Vergleich hat juristische Konsequenzen. Strafanzeige gegen Exwirtschaftsminister. Bundesrichter a. D. Neskovic kündigt parlamentarisches Nachspiel an

Von Peter Wolter

Quelle: junge Welt vom 20. Oktober 2005

© AP / Montage: jW

Mit seinem Rückgriff auf Nazivokabular gegenüber Arbeitslosen hat sich der ehemalige Bundesminister Wolfgang Clement (SPD) Anzeigen wegen Volksverhetzung eingehandelt. Anlaß ist ein Report seines bisherigen Wirtschafts- und Arbeitsministeriums, der Empfänger von Arbeitslosengeld II in Verbindung mit dem Begriff »Parasiten« bringt. Die dem Ministerium untergeordnete Bundesagentur für Arbeit (BA) setzte unterdessen die Diffamierungskampagne gegen Arbeitslose fort.

Die Verwendung des Begriffs »Parasiten« im Zusammenhang mit Arbeitslosen setze einen Teil der Bevölkerung mit Tieren gleich, heißt es in einer jW vorliegenden Strafanzeige, die bei der Staatsanwaltschaft Berlin eingereicht wurde. Da es sich um eine Tierart handele, »deren Vernichtung angebracht erscheint«, sei die Menschenwürde der Betroffenen angegriffen. »Parasit« sei »ein zentraler Begriff der Rassenpropaganda der NSDAP und ein Bestandteil der geistigen Vorbereitung des Holocaust«. Der Ministeriumstext mit dem Titel »Vorrang für die Anständigen« sei im Internet öffentlich zugänglich und erfülle damit den Tatbestand der Volksverhetzung. Der Staatsanwaltschaft Ellwangen liegt eine ähnliche Anzeige vor.

Clements Entgleisungen werden wahrscheinlich auch ein parlamentarisches Nachspiel haben. Der ehemalige Bundesrichter und jetzige Linkspartei-Abgeordnete, Wolfgang Neskovic, sagte gegenüber jW, mit dem Wort »Parasit« würden Arbeitslose in die Nähe von Ungeziefer gerückt. »Eine solche Entgleisung muß von der Linksfraktion aufgegriffen werden.« Es mache stutzig, daß dieser Begriff beim Thema Steuerbetrug »nicht einmal ansatzweise« verwendet werde. Statt dessen bemühe man das beschönigende Wort »Steuersünder«.

Der stellvertretende Verwaltungsratsvorsitzende der BA, Peter Clever, behauptete, beim Bezug von Leistungen gebe es eine Mißbrauchsquote »von sicherlich über zehn Prozent«. Die Zahl sei allerdings am »unteren Rand seriöser Schätzung«, sagte er der Passauer Neuen Presse (Mittwochausgabe). Clever bezog sich auf das »niederschmetternde Ergebnis« einer Telefonaktion bei 390000 Empfängern von ALG II. 170000 von ihnen seien kein einziges Mal erreichbar gewesen, obwohl jeweils zehn Anrufe an unterschiedlichen Tagen und zu unterschiedlichen Zeiten gemacht worden seien. 43 000 Aufgerufene hätten die Teilnahme an der freiwilligen Befragung abgelehnt.

»Das sind schon wirklich abenteuerliche Konstruktionen der Bundesagentur«, erklärte dazu Martin Behrsing, Pressesprecher des Erwerbslosen-Forums Deutschland. Clever habe keine Beweise für seine »ungeheuerlichen Behauptungen«. Die BA suche jetzt ganz offensichtlich Sündenböcke für ihre hausgemachten Probleme.

* Siehe auch Abgeschrieben

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Minister Clement

Nur noch peinlich

Kommentar von Andreas Wyputta

Quelle: taz vom 20. Oktober 2005

Mit einem Skandal verabschiedet sich Nordrhein-Westfalens Ex-Ministerpräsident Wolfgang Clement aus der Politik. Der einstige Star der Sozialdemokraten zeichnet für ein offen rassistisches Papier verantwortlich, für das er sogar eigenhändig ein Vorwort verfasst hat. Clements Botschaft: Für die katastrophale Hartz-Gesetzgebung, die wegen viel zu optimistischer Grundannahmen auch zum finanziellen Debakel zu werden droht, ist keinesfalls der zuständige Minister zur Rechenschaft zu ziehen. Verantwortlich sind vielmehr die Arbeitssuchenden: Die werden bei Clement zu "Abzockern", "Parasiten" - Sozialschmarotzer eben, die auf Kosten anderer leben und so sein Gesetzeswerk zerstören.

Da ist es nur folgerichtig, dass Clement die Denunziation als Mittel der Sozialpolitik preist, die Erfolge seiner "Ermittler" lobt. Hier beginnt der zweite Skandal: Der Sozialdemokrat Clement hält es für völlig legitim, Menschen, die teilweise jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, mit Stasi-Methoden auszuschnüffeln. Überprüfte Betten, durchwühlte Kühlschränke: Clement ist jedes Mittel recht, um angeblichen Sozialbetrügern auf die Spur zu kommen.

Die Arbeitssuchenden werden so pauschal diffamiert, zu Kriminellen gestempelt. Der ebenfalls aus NRW stammende designierte Arbeitsminister und SPD-Chef Franz Müntefering muss Clements "Report" einstampfen lassen. Alles andere wäre ein neuer Skandal.

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Clements Jargon

Quelle: taz vom 20. Oktober 2005

"[...] Ibrahim, ein Sänger aus dem Libanon, bezieht in Ludwigshafen Arbeitslosengeld II. Das neuwertige BMW Cabrio, das ihm gehört und vor seiner Haustür steht, kann er von diesen Einnahmen nicht bezahlt haben. Ermittler Hans-Jürgen Hoes verfügt über konkrete Hinweise, dass Ibrahim bei Hochzeiten und anderen Festen auftritt und beträchtliche Gagen kassiert, die er bei der ARGE nicht angibt: "Der hat sogar einen Manager." Beim Kontrollbesuch jammert Ibrahim dem Prüfer vor, dass das Auto noch aus besseren Zeiten stamme und nur geleast sei. "Ich liebe Musik, ich muss singen", erklärt er - aber nicht auf Kosten des Sozialstaats , wie ihn der Ermittler belehrt.
Biologen verwenden für " Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten - leben", übereinstimmend die Bezeichnung " Parasiten ". Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. [...]"
aus: Report des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit "Vorrang für die Anständigen - gegen Missbrauch, "Abzocke" und Selbstbedienung im Sozialstaat"
www.bmwa.bund.de

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Clements rassistischer Abgang

Wolfgang Clement, noch Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, diffamiert Arbeitslose pauschal als Abzocker. Ein "Report" seines Hauses ist offen rassistisch: "Das erinnert an den Jargon der Nazis"

Von Andreas Wyputta

Quelle: taz vom 20. Oktober 2005

Der Frust über den erzwungenen Abgang aus der Politik muss tief sitzen: Nordrhein-Westfalens ehemaliger SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement, derzeit als Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit noch geschäftsführend im Amt, mutiert nach Ansicht von Parteien und Wissenschaftlern in NRW zum Rassisten. Ein "Report" seines Ministeriums, den Clement verantwortet und dem ein persönliches Vorwort des Ministers vorangestellt ist, nennt Arbeitslose "Parasiten" und verdächtigt sie pauschal des Betrugs. Ohne Verweis auf empirische Grundlagen bedient Clements "Report" mit dem Titel "Vorrang für die Anständigen" ausländerfeindliche Stereotypen. Erwähnt wird etwa "Ibrahim", ein "Sänger aus dem Libanon", der "bei Hochzeiten" auftrete und dennoch "auf Kosten des Sozialstaats" lebe.

"Clement will offensichtlich von seiner eigenen Unfähigkeit ablenken", sagt Thomas Münch, Professor an der Fachhochschule Düsseldorf: "Dieser Schmuddel-Report ist in einem Nazi-Duktus verfasst. Das ist der Jargon des Nazi-Hetzblatts ,Stürmer'". Noch kurz vor seinem Abgang wolle Clement offensichtlich "regelmäßige Hausbesuche und Telefonanrufe zu allen Tageszeiten auch ohne konkreten Verdacht" durchsetzen, so die Essener Sozialwissenschaftlerin Helga Spindler. Widerstand gegen Anordnungen der Arbeitsverwaltung werde zur "politischen Aufwiegelei".

Arbeitssuchende als "Abzocker": Das ist das Bild, das Clements Ministerium anhand vieler Fallbeispiele zeichnet. Dabei schätzen Sozialwissenschaftler den Anteil der Missbrauchsfälle bei Beziehern von Arbeitslosengeld auf gerade einmal zwei bis drei Prozent. Der "Report" lobt hingegen einen "Ermittler", der feststellt, dass in einer Wohngemeinschaft nicht nur "die Schmutzwäsche gemeinsam erledigt", sondern auch noch "die Lebensmittel im Kühlschrank gemeinsam aufbewahrt" werden. Für SPDler Clement ein klarer Fall von Sozialmissbrauch: Die Wohn- sei eine Lebensgemeinschaft, die dort Wohnenden gegenseitig unterhaltspflichtig.

Der Bundesminister müsse sich bei den Arbeitslosen entschuldigen und das Papier zurücknehmen, fordert auch Marianne Saarholz, NRW-Landeschefin des Sozialverbands Deutschland. Selbst die Arbeitsverwaltung geht auf Distanz: "Das ist eine Auflistung von Einzelfällen, die eher Vorurteile bedienen", sagt Werner Marquis, Sprecher der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit.

Massiv kritisiert wird Clement auch von Seiten der Politik. "Diese Broschüre ist ein Skandal. Die Verantwortung trägt der Minister", sagt Nordrhein-Westfalens grüne Ex-Umweltministerin Bärbel Höhn - die Grünen fordern, Clements "Report" müsse eingestampft werden. Selbst den Sozialdemokraten ist ihr einstiger Star peinlich: "Mehr als traurig" sei das Pamphlet, findet Rainer Schmeltzer, SPD-Fraktionsvize im Düsseldorfer Landtag. "Der ganze Stil ist daneben."

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Widerspruch lohnt sich

Schlechte Noten für Hartz IV bei "Stiftung Warentest"

Von Susanne Gannott

Quelle: taz vom 19. Oktober 2005

Das ist gutes Timing: Der Hartz-IV-Report von Noch-Superminister Clement mit dem vielsagenden Titel "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, Abzocke und Selbstbedienung im Sozialstaat" ist gerade ein paar Tage alt, da erscheint der Hartz-IV-Test von Stiftung Warentest - und entwirft eine völlig andere Sicht der Dinge. Laut neuem Finanztest sind die ersten neun Monate unter Hartz nicht, wie Clement gerne behauptet, geprägt von faulen, aber trickreichen Arbeitslosen, die sich skrupellos Geld von der Allgemeinheit ergaunern. Im Gegenteil! Glaubt man dem Test, heißt Hartz IV vielmehr Chaos bei den Ämtern, viel Fordern, wenig Fördern und jede Menge erfolgreiche Widersprüche.

Die Behörden sahen das Desaster offenbar kommen: Zweidrittel der 21 angefragten Arbeitsagenturen und -gemeinschaften weigerten sich laut Finanztest, den Fragebogen auszufüllen. Die Arbeitsgemeinschaft von Agentur und Sozialamt (ARGE) in Köln gehört ebenso dazu wie die Sozialagentur Mülheim/Ruhr. An dem Test sollte Köln als größte NRW-Stadt teilnehmen, und Mülheim, weil dort das Optionsmodell praktiziert wird - die Stadt also alleine für Hartz IV zuständig ist. Aber ARGE hin, Optionskommune her: Unter den 4.400 Arbeitslosen, die den online-Fragebogen ausfüllten, schnitten beide Modelle gleich schlecht ab.

Die Antworten der Arbeitslosen zeichnen ein trauriges Bild vom Stand der "Reformen". Erstens: Die Behörden arbeiten lahm und schlampig. 45 Prozent der Umfrageteilnehmer mussten länger als vier Wochen auf die Bearbeitung ihres Antrags warten, bei mehr als 50 Prozent waren Unterlagen verschwunden. Zweitens: Beim Fördern sind die Behörden geizig und einfallslos. Nur 783 der 4.440 Befragten bekamen ein Qualifizierungs- oder Beschäftigungsangebot - meist ein Ein-Euro-Job. Ihren persönlichen Ansprechpartner haben Dreiviertel noch nie gesehen. Drittens: Wenn schon nicht gefördert wird, so geht das Fordern umso fixer. 17 Prozent wurden zum Umzug in eine günstigere Wohnung aufgefordert.

Ein Lichtblick für Arbeitslose: Widerspruch einlegen lohnt! Von den 1.427 Befragten, die ihrem Bescheid widersprochen haben, waren nur 20 Prozent erfolglos. Im Schnitt brachte ein erfolgreicher Widerspruch 127 Euro mehr in die Kasse.

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Clement bald Geschichte

Quelle: taz vom 19. Oktober 2005

DÜSSELDORF taz - Die Karriere von Sozialdemokrat Wolfgang Clement steht kurz vor dem Ende. Gestern wurde der Wirtschaftsminister offiziell von Bundespräsident Horst Köhler aus seinem Amt entlassen. Am Montag Abend hatte das Präsidium der NRW-SPD bei einer Gegenstimme beschlossen, Peer Steinbrück als Clement-Nachfolger für das Amt des stellvertretenden SPD-Bundeschefs vorzuschlagen. Ex-Ministerpräsident Clement hatte zuletzt an Ansehen in der SPD verloren. Bei der letzten Vorstandswahl hatte der für die umstrittene Hartz-IV-Reform zuständige Minister mit nur 56,7 Prozent der Stimmen das schlechteste Stellvertreter-Ergebnis erzielt. Wie Clement wird Ex-SPD-Landeschef Harald Schartau nicht erneut für den Parteivorstand kandidieren. Dafür tritt der neue SPD-Landesvorsitzende Jochen Dieckmann beim Karlsruher Bundesparteitag Mitte November an. TEI

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Kammerjäger für die Republik

in die presse

Von Regina Stötzel

Quelle: Jungle World vom 19. Oktober 2005

Garstiges menschliches Ungeziefer, das allenthalben der Republik die Lebenssäfte aussaugt, wird bald keine Chance mehr haben. Denn der Heuschreckenexperte der Nation, Franz Müntefering (SPD), wird künftig als Arbeitsminister auch die Parasiten im Innern bekämpfen. Diese hat sein Vorgänger Wolfgang Clement (SPD) am Ende seiner mit beispiellosen Erfolgen gesegneten Amtszeit entdeckt.

Hartz-IV-Empfänger würden in einem Papier des noch amtierenden Ministers »indirekt sogar ›Parasiten‹ genannt«, schreibt die Bild-Zeitung. Auf 33 Seiten gibt Clement demnach erschreckende Details bekannt, wie »Arbeitslose mit ›beispielloser Dreistigkeit‹ Leistungen erschleichen«. Wenn sie wenigstens tatsächlich arbeitslos wären! »Eine 37jährige Verkäuferin kassierte für sich und ihre beiden Söhne 1 655 Euro Hartz IV und Unterkunftskosten im Monat«, und lebte derweil in einer »Edel-Wohnung in einem feinen Stadtteil«. Aber es kommt noch krasser: »Ein Libanese beantragte wegen Bedürftigkeit Hartz IV. Die Arbeitsagentur fand heraus: Der Mann ist ein bei seinen Landsleuten bekannter Sänger, tritt gegen Honorar ständig bei Hochzeiten auf und fährt BMW-Cabriolet. Er hatte sogar einen Manager!«

Keine Lüge ist den inländischen Heuschrecken zu dreist: »Um eine eheähnliche Gemeinschaft mit einer Hartz-IV-Empfängerin zu verschleiern, flüchtete ein Mann in Mannheim bei fast null Grad nackt auf den Balkon, als die Kontrolleure vom Arbeitsamt klingelten. Nachdem sie ihn dort entdeckt hatten, sagte er: ›Ich bin Freiluftfanatiker.‹« Doch die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen können auch Eins und Eins zusammenzählen: »In Gelsenkirchen behauptete eine Frau, ihr Lebensgefährte sei nur ein Mitbewohner, der auf einer Couch im Kinderzimmer schlafen würde. Bei einem Besuch der Arbeitsagentur stand der Mann aber mit entblößtem Oberkörper im Flur, hatte noch die Saugnäpfe eines Medizin-Geräts auf der Brust kleben. Der dazugehörende Apparat stand neben dem Ehebett. Und in der Wohnung gab es sonst kein anderes eigenes Zimmer des Mannes.«

Keine Gnade für Abzocker, Fußfesseln für Hartz-IV-Empfänger, mehr Kammerjäger für die Republik – sonst hilft alles nichts!

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Titel

Von Wirten und Parasiten

Wohlfahrtsverbände kritisieren Clement. Wirtschaftsministerium macht mit Nazivokabular Front gegen Arbeitslose. Studie spricht von Sozialbetrügern und Abzockern

Von Peter Wolter

Quelle: junge Welt vom 19. Oktober 2005

© AP/Markus Schreiber

Sozialdemokraten sind mitunter voller Überraschungen – sie können noch tiefer sinken, als man es für möglich hielt. Der bisherige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) schreckt jetzt nicht einmal mehr vor Anleihen beim faschistischen Vokabular zurück, um Arbeitslose und sozial Schwache zu diffamieren. »Vorrang für die Anständigen« heißt ein Report, in dem Clements Ministerium diese Personengruppe undifferenziert als Abzocker, Parasiten und Leistungsbetrüger abtut. Die Entgleisungen riefen prompt heftige Kritik hervor.

»Als üble Kampagne gegen Arbeitslose« qualifizierte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV), Ulrich Schneider, am Dienstag den von Clement zu verantwortenden Text. Darin heißt es unter Anspielung auf ALG-II-Empfänger wörtlich: »Biologen verwenden für ›Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben‹, übereinstimmend die Bezeichnung ›Parasiten‹.« Leicht abgeschwächt fährt der Text fort: »Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen.« Aber dann wird noch eine Unverschämtheit draufgesetzt: »Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des einzelnen gesteuert.«

In einer anderen Passage werden Arbeitslose anhand eines Beispiels mit »Urinflecken auf dem Teppich«, verstaubten Möbeln und herumliegenden Essensresten in Verbindung gebracht. »Hier haben Vandalen ihr Quartier bezogen«, heißt es dazu. An anderer Stelle wird der »neuwertige schwarze BMW Cabrio« erwähnt, der angeblich vor der Tür eines libanesischen Sozialbetrügers steht. Fast schon lyrisch wird es bei der Schilderung der Luxuswohnungen von ALG-II-Beziehern: »Mondäne Villen reihen sich in vielen Straßenzügen aneinander wie Perlen an einer Kette.«

Schneider forderte, die Wahl des Wortes »Parasit« dürfe »in einer Demokratie nicht ohne Konsequenzen für den Urheber bleiben.« Mißbrauch von Leistungen sei zwar nie auszuschließen. Der »reißerische Charakter dieses Pamphlets« belege aber, daß dem Ministerium an einer sachlichen Aufklärung nicht gelegen sei. »Die Menschen mit dem unzureichenden Arbeitslosengeld II zuerst in die Armut zu schicken und sie dann auch noch pauschal zu diskreditieren, ist unanständig und zynisch«, erklärte Schneider weiter. Clement habe sich mit dieser Publikation »einen denkbar unwürdigen Abgang beschert.«

In einem Schreiben an Clements Nachfolger Franz Müntefering (SPD) forderte die Grünen-Abgeordnete Thea Dückert, den Text möglichst schnell aus dem Verkehr zu ziehen. »Der Report bedient alle bekannten Stammtischklischees in einer nicht hinnehmbaren, unreflektierten Weise. ... Hier wird ganz klar Stimmung gegen Bezieher von Fürsorgeleistungen gemacht.«

Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Ulla Jelpke warf Clements Ministerium vor, sich »unverblümter Fascho-Sprüche« zu bedienen. »Wer zu solchen Entgleisungen fähig ist, sollte sofort aus dem politischen Verkehr gezogen werden. Texte wie diese zeigen, wie weit führende Sozialdemokraten schon ins Reaktionäre abgeglitten sind.«

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Hinweis der MBI Redaktion Clement:


Auszug aus der Internetseite des BMWA

Bundesminister Wolfgang Clement zu dem Report des BMWA "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, "Abzocke" und Selbstbedienung im Sozialstaat"

Leistungsmissbrauch schadet der großen Mehrheit von Arbeitswilligen und tatsächlich Bedürftigen. Jeder Euro, der am Arbeitsmarkt "abgezockt" wird, steht für eine sinnvolle Unterstützung und Integrationsförderung nicht mehr zur Verfügung. Leistungsmissbrauch ist also kein Kavaliersdelikt, sondern Betrug an all denen, die Hilfe wirklich brauchen, und an Millionen Menschen, die ihre Steuern und Sozialabgaben ehrlich entrichten. Sie alle müssen sich auf diesen Staat verlassen können.

Vorrang für die Anständigen -
Gegen Missbrauch, "Abzocke" und Selbstbedienung im Sozialstaat

Ein Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005    PDF: 183,3 KB

Statement des Bundesministers Wolfgang Clement zum Report Leistungsmissbrauch   PDF: 111,6 KB



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Clements letzter Wille wird nicht erfüllt

Arbeitsagenturen in Nordrhein-Westfalen wollen Kontrollen von ALG-II-Empfängern nicht ausweiten. Der Missbrauch von Hilfeleistungen habe sich nicht entscheidend ausgeweitet, heißt es vor Ort: "Wir wollen keinen Sheriff-Charakter"

Von Klaus Jansen

Quelle: taz vom 11. Oktober 2005

BOCHUM taz - Er wolle seine neuen Freiheiten "auskosten", hat Wolfgang Clement (SPD) gestern gesagt. Der frühere NRW-Ministerpräsident und Herr über die Arbeitsmarktreform Hartz IV wird dem neuen Kabinett nicht mehr angehören. Die letzte Amtshandlung des wirtschafts- und Arbeitsministers wird zur Freude vieler Langzeitarbeitslosen voraussichtlich folgenlos bleiben: Die am Freitag von Clement geforderte stärkere Kontrolle von Arbeitslosengeld-II-Empfängern wird in NRW vorerst nicht umgesetzt.

"Vorrang für die Anständigen: Gegen Missbrauch, ,Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat" - so lautet der Titel des Programms, mit dem Clement Arbeitslosen auf die Pelle rücken wollte, die zu Unrecht Leistungen beziehen. Konkret bedeutet das: Verstärkte Hausbesuche und Telefonkontrollen, besserer Datenabgleich zwischen Arbeitsagenturen und Finanzämtern sowie Trainingsprogramme mit Anwesenheitspflicht für Langzeitarbeitslose.

Clements Hoffnung: Durch die Aktion die steigenden Kosten für Hartz IV in den Griff bekommen werden. Nach einem Bericht der Kölner Stadtanzeigers gibt es bei den ALG-II-Empfängern durchaus noch etwas zu holen: die Innenrevision der Kölner Arbeitsagentur habe ergeben, dass pro Bedarfsgemeinschaft jährlich im Schnitt 1.440 Euro zu viel ausgezahlt werden.

In den Arbeitsagenturen in NRW wird jedoch bezweifelt, dass diese Zahlen auf einen verstärkten Missbrauch der staatlichen Unterstützung hinweisen. "Es ist völlig natürlich, dass sich statistische Überzahlungen ergeben. Das passiert zum Beispiel dadurch, dass sich die Einkommensverhältnisse eines Leistungsempfängers zu Monatsbeginn ändern, unsere EDV das aber erst im Laufe des Monats erfasst", sagt Marcell Raschke, Geschäftsführer der Aachener Arbeitsgemeinschaft (ARGE) aus Arbeitsagentur und Stadt.

In Aachen sollen deshalb die Hausbesuche bei Arbeitslosen nicht wie von Clement gefordert ausgeweitet werden. "Wir werden kein Sonderpaket schnüren", so Raschke zur taz. Er wolle nicht, dass sämtliche ALG-II-Bezieher "unter Generalverdacht" gestellt würden. Denn: "Die Anzahl derer, die unsere Leistungen missbrauchen, liegt nur bei drei bis vier Prozent."

Auch in Dortmund will die Arbeitsagentur keine zusätzlichen Mitarbeiter im "Außendienst" einstellen. "Wir haben sechs Leute vom Sozialamt übernommen, die unsere Kunden auch kennen. Weitere Planungen gibt es nicht", sagt Agentursprecherin Daniela Karlic. Zudem werde nur bei begründeten Verdachtsfällen kontrolliert, versichert sie: "Wir wollen keinen Sheriff-Charakter haben." In Düsseldorf und Essen wird bislang sogar völlig auf Hausbesuche verzichtet. "Man muss immer rechnen, ob sich der Aufwand lohnt", sagt Essens Agentursprecher Jens Schwermer.

Auch in der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit in Düsseldorf werden Clements Forderungen zurückhaltend aufgenommen. Sprecher Werner Marquis verweist darauf, dass Hausbesuche Sache der lokalen Agenturen seien und der Datenabgleich mit den Finanzämtern bereits stattfinde. "Ich kann nicht beurteilen, ob es eine Verschärfung der Kontrollen gibt", sagt er. Klar ist nur: Entscheiden wird das nicht mehr Wolfgang Clement, sondern sein Nachfolger in Berlin.

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Inland

Clement bläst zur Jagd auf Arbeitslose

Bundeswirtschaftsminister hat angeblich Leistungsmißbrauch in großem Stil entdeckt

Von Wera Richter

Quelle: junge Welt vom 10. Oktober 2005

»Vorrang für die Anständigen – Gegen Mißbrauch, ›Abzocke‹ und Selbstbedienung im Sozialstaat« ist der Titel eines neuen Gruselpaketes aus dem Hause Clement. Mit einem Sieben-Stufen-Plan bläst der Bundeswirtschaftsminister zur Jagd auf Arbeitslose und stellt sie unter Generalverdacht. Durch Hausbesuche und Anrufaktionen sollen »Tarnkappen-Einkommen« und »Phantom-Wohnungen« aufgespürt werden. Bei den Besuchen soll vor allem kontrolliert werden, ob Leistungsbezieher in eheähnlichen Verhältnissen leben und von ihrem Partner unterstützt werden können. Verstärkter Datenabgleich mit den Finanzämtern soll »verborgene Vermögen« aufspüren und die Einkommen von ALG-II-Beziehern durchleuchten. Durch »Trainingsprogramme mit Anwesenheitspflicht« soll die »Arbeitsbereitschaft« auf den Prüfstand gestellt werden. Auch die Bedarfsgemeinschaften sollen überprüft werden. Es könne nicht sein, daß junge Arbeitslose nur aus dem Elternhaus ausziehen, um mehr Sozialleistungen zu erhalten, so Wolfgang Clement. Die Übernahme von Wohnkosten soll deshalb nur noch genehmigt werden, wenn die Behörden dem Erstbezug einer Wohnung zustimmen.

»Wir wollen keine Gesellschaft sein, in der die Ehrlichen sich als Dumme fühlen«, begründete der SPD-Mann in der Berliner Zeitung (Samstagausgabe) seinen Vorstoß. Stichproben hätten den »Verdacht auf Leistungsmißbrauch im großen Stil« erhärtet. Es müsse damit gerechnet werden, »daß die Arbeitslosigkeit derzeit um mindestens zehn Prozent überschätzt wird«. Dies könne bedeuten, daß mehr als 280 000 angebliche Langzeitarbeitslose zu Unrecht Leistungen bezögen.

Die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei Petra Pau konnte diesen Behauptungen am Sonntag wenig abgewinnen. Auf ihre parlamentarische Anfrage, wie viele Datenabgleiche bei ALG-II-Empfängern bisher erfolgt seien, habe die Antwort erst kürzlich gelautet, daß man das nicht wisse. Auf einmal gebe es aber Zahlen und zehn Prozent aller Langzeitarbeitslosen würden als »gefährliche Betrüger« abgestempelt. »Erst verloren Millionen Betroffene ihren Arbeitsplatz«, so Pau, »dann wurden sie gedemütigt, nun sollen sie verfolgt werden.«

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Großkoalitionärer Vorgeschmack

Wirtschaftsminister Clement präsentiert Maßnahmenkatalog gegen "Abzocke" von Arbeitslosengeld II. Hartz-IV-Kostenexplosion wird aus seinem Hause aber bestritten

Quelle: taz vom 10. Oktober 2005

BERLIN dpa - Empfänger von Arbeitslosengeld II müssen mit verstärkten Kontrollen der Behörden rechnen. Noch-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) kündigte an, schärfer gegen "Abzocke" vorgehen zu wollen. Vorgesehen sind etwa verstärkte Hausbesuche und Anrufaktionen, bestätigte ein Ministeriumssprecher gestern. Einen Bericht über eine weitere Kostenexplosion bei der Arbeitsmarktreform Hartz IV wies er zurück.

Clement sagte der Berliner Zeitung, Stichproben hätten den Verdacht auf Leistungsmissbrauch im großen Stil erhärtet. Es könne danach vermutet werden, "dass die Arbeitslosigkeit derzeit um mindestens zehn Prozent überschätzt wird". Laut Clements Plan sollen auch die Arbeitsagenturen ihre Daten mit den Finanzämtern abgleichen, um verborgene Vermögen aufzuspüren. Verhindert werden soll, dass junge Arbeitslose nur aus dem Elternhaus ausziehen, um mehr Geld zu erhalten.

Der Ministeriumssprecher wies einen Bericht der Welt am Sonntag zurück, die Ausgaben des Bundes für das Alg II würden in diesem Jahr 29 Milliarden Euro betragen, im nächsten Jahr sogar 31,5 Milliarden. "Für das Jahr 2005 gehen wir von Kosten für den Bund in Höhe von etwa 26 Milliarden Euro aus", sagte er. Auch die Zahl von 31,5 Milliarden sei "aus der Luft gegriffen und falsch". Ursprünglich waren für das Alg II nur 14,6 Milliarden Euro für 2005 eingeplant.

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hartz-minister

Clement verhindern

Die NRW-SPD sollte sich Clement klemmen. Es liegt im Interesse der Genossen, den einstigen Hoffnungsträger und Ex-Superminister endlich in Rente zu schicken. Wolfgang Clements Management der von der Grundidee her nachvollziehbaren, aber in der Realität fehlerhaften und ungerechten Hartz-IV-Reform sind hauptverantwortlich für den Niedergang der SPD. Nur weil Bundeskanzler Gerhard Schröder die Talfahrt der Partei durch einen brillanten Wahlkampf stoppen konnte, verdient Clement keine weitere Chance.

KOMMENTAR von Martin Teigeler

Quelle: taz vom 06. Oktober 2005

Im Wahlkampf hat die SPD den Hartz-Minister meistens versteckt. Das war schlau. Es gibt keinen Grund, den 65-jährigen jetzt wieder mit einem Spitzenposten zu versorgen. Das wäre ziemlich dumm. Die politische Fehlerliste des Ex-NRW-Landesvaters ist lang: Erst hatte der Ministerpräsident mit seiner erfolglosen Ankündigungspolitik (HDO, Olympia 2012, Metrorapid) kein Glück. Wegbefördert nach Berlin, kam auch noch Pech und Unvermögen hinzu.

Die Hartz-Reformen funktionieren nicht. Der aus statistischen Gründen erfolgte Anstieg der Erwerbslosigkeit auf zwischenzeitlich fünf Millionen wurde vom Minister schlecht erklärt. Zudem beförderte Clements schroffes Auftreten die Entstehung der Montagsdemo- und Linkspartei-Bewegung. Nein, es gibt keinen Grund, den in seiner Wirkung verheerendsten SPD-Minister seit Gustav Noske im Amt zu belassen.

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Clement soll in Rente gehen

Ex-NRW-Ministerpräsident und Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement will angeblich wieder ins Kabinett. Doch zahlreiche Parteilinke wollen den einstigen Superminister lieber in Rente schicken

Von Martin Teigeler

Quelle: taz vom 06. Oktober 2005

In der NRW-SPD gibt es Zweifel an der Weiterbeschäftigung von Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement. Besonders Vertreter des linken Parteiflügels stellen die politischen Zukunftsfähigkeit des 65-jährigen Ex-Regierungschefs von Nordrhein-Westfalen in Frage. "Die SPD braucht perspektivisch einen Generationswechsel", sagte Alexander Bercht, Landesvorsitzender der Jungsozialisten, gestern zur taz. Es könne nicht sein, dass die SPD nur mit Ministern jenseits der 60 in eine neue Regierung gehe. "Das bezieht sich nicht nur auf Clement, aber gerade mit Hinblick auf die nächsten Jahre benötigt die SPD ein verjüngtes personelles Angebot", so Bercht.

Laut Medienberichten will der Minister angeblich wieder in ein Kabinett eintreten - vorausgesetzt, es kommt zu einer Großen Koalition. Clements Ministerium wollte gestern auf Anfrage keinen Kommentar dazu abgeben. "Clement ist Geschichte", sagt ein linker Bundestagsabgeordneter aus NRW. Öffentlich will sich kaum ein Genosse gegen Clement positionieren, doch intern gibt es große Bedenken gegen den Minister. Clements Problem: die dilettantisch umgesetzte Arbeitsmarktreform Hartz IV. "Wir Jusos halten an der inhaltlichen Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Ministers fest", so NRW-Jungsozialist Bercht. Wenn Clement in eine künfige Bundesregierung eintreten wolle, dann gehe das nur auf der inhaltlichen Basis des Wahlmanifestes "verbunden mit dem Anspruch, das soziale Profil der SPD wieder zu schärfen".

Wenig populär ist Clement vor allem in der NRW-SPD-Landesgruppe in Berlin. Politisch angeschlagen durch sein Auftreten und die endlose Nachbesserungs-Debatte um Hartz, steht der einst als "Superminister" titulierte Clement bei vielen SPDlern auf der Abschussliste.

Zur Überraschung vieler Teilnehmer war Clement am vergangenen Wochenende bei einer Sitzung des SPD-Landesparteirats in Essen aufgetaucht. "Da hab ich den seit Jahren nicht mehr gesehen", so ein Parlamentarier. Bei der Sitzung habe Clement eine knappe halbe Stunde über die Lage in Berlin berichtet. "Ich habe das nicht als Bewerbungsvortrag für eine Weiterbeschäftigung als Minister verstanden", so ein Sitzungsteilnehmer.

Schon bei der Kandidatenaufstellung für die Bundestagswahl hatte sich die Begeisterung für den Hartz-IV-Minister in Grenzen gehalten. In seiner Heimatstadt Bochum bekam Clement keinen Wahlkreis (taz berichtete). "Er hat nicht nach einem Wahlkreis gefragt, und auch keinen angeboten bekommen", hieß es aus der SPD. Auch auf der Landesreserveliste tauchte der Name des prominenten Genossen nicht auf. Somit steht Clement im Bundestag ohne Abgeordnetenmandat da. Auf dem kommenden SPD-Bundesparteitag kandidiert Clement angeblich nicht erneut als Partei-Vize. Falls er auch seinen Kabinettsposten verlöre, wäre seine politische Laufbahn wohl beendet.

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die arbeitsmarktreformen sind gescheitert. das war abzusehen

Hilflose Flickschusterei

Von Richard Rother

Quelle: taz vom 06. Oktober 2005

Kurz vor dem Ende der Legislaturperiode kommt Bewegung in die umstrittene Arbeitsmarktpolitik. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will offenbar ihre Instrumente schärfen, und Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) fordert von den Kommunen Milliarden für die Wohnkosten von Arbeitslosengeld-II-Empfängern zurück. Letzteres ist zwar dem ursprünglich vereinbarten Prozedere zwischen Bund und Kommunen geschuldet, passt aber trefflich ins Bild: Die mit großem Trara verabschiedeten Reformen funktionieren hinten und vorne nicht, und das hilflose Nachbessern spricht eher für Torschlusspanik der Verantwortlichen.

Zunächst ist Hartz IV viel teurer als erwartet - so viel ist nach dem kläglichen Abgang des Namensgebers der Reform klar. Der Grund: Viel mehr Menschen als geschätzt haben sich als bedürftig gemeldet. Für Clement ein Grund, massenhaften Missbrauch zu wittern. Dabei ist Missbrauch schon, wenn ein Paar auseinander zieht, damit der Lohn des einen nicht auf die Unterstützung des anderen angerechnet wird. Haben Clement und Co gedacht, die Menschen würden die radikale Kürzung ihrer Einkünfte klaglos hinnehmen? Ein Blick auf die Anti-Hartz-Proteste hätte die Illusion verhindert.

Illusionär auch die Einführung vieler arbeitsmarktpolitischer Instrumente, die jetzt - zum Teil sinnvollerweise - auf den Prüfstand kommen. Ein Großteil der Ich-AGs kannn sich eben am Markt nicht behaupten, nehmen lediglich die Unterstützung mit. Die Erwartungen an staatliche Zeitarbeitsfirmen für Arbeitslose waren ebenfalls übertrieben, und dass Ein-Euro-Jobs in den ersten Arbeitsmarkt führen, glaubt eh keiner.

Leider ist ein radikaler und sozialer Schnitt nicht in Sicht. Dieser hieße: allen Erwerbslosen ohne großen und teuren bürokratischen Aufwand eine Grundsicherung zahlen, die ein Leben in Würde ermöglicht. Damit könnte sich die Arbeitsmarktpolitik auf Wesentliches konzentrieren: sinnvolle Qualifizierungen organisieren und einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt mit existenzsichernden Löhnen schaffen. Im sozialen und ökologischen Bereich gibt es genug zu tun.

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Arbeitslose sollen Lokalproblem sein

Die Bundesregierung verlangt jetzt von den Kommunen die Zuschüsse zurück, die sie ihnen für die Unterbringung Langzeitarbeitsloser zahlte. Der Grund: Hartz IV ist viel teurer als geplant. Städte und Gemeinden protestieren vehement

Von Richard Rother

Quelle: taz vom 06. Oktober 2005

Sie sollte die öffentlichen Haushalte entlasten, in der Realität aber ist sie zu einer Belastung geworden: die Arbeitsmarktreform Hartz IV, mit der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt wurden. Weil sich viel mehr Menschen als bedürftig gemeldet haben, als die Reformer ursprünglich schätzten, sind jetzt die Kosten explodiert. Die Folge ist ein Streit zwischen Bund und Kommunen, wer dafür aufkommen muss. Einen "ersten Aufschlag", so eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums, gab gestern die Bundesregierung. Sie fordert bereits gezahlte Leistungen von den Kommunen zurück und möchte weiteres Geld nicht zahlen - insgesamt müssten die Kommunen auf mehr als 3 Milliarden Euro verzichten. Ein entsprechendes Gesetz, das rückwirkend zum Januar wirksam werden soll, muss allerdings von Bundestag und Bundesrat gebilligt werden, womit kaum zu rechnen ist. Die Bundesregierung begründet ihren Vorstoß mit den neuen Zahlen der Hartz-IV-Betroffenen. Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement (SPD): "Die Kostenentwicklung führt uns angesichts der unerwartet hohen Zahl von Hilfeempfängern und Bedarfsgemeinschaften zu dem Ergebnis, dass der Bundesanteil der tatsächlichen Entwicklung angepasst werden muss." Allerdings bleibe es bei der Entlastung der Kommunen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro, wie dies der Bund zugesagt habe.

Bei den strittigen Milliarden geht es um den Anteil des Bundes an den Unterkunftskosten für erwerbsfähige ehemalige Sozialhilfe-Empfänger, die jetzt das neue Arbeitslosengeld II beziehen. Deren Sozialhilfe zahlten ursprünglich die Kommunen, das ALG II zahlt jetzt jedoch der Bund. Weil dies zur Entlastung der Kommunen führt, verpflichteten sie sich zur Übernahme der Wohnkosten. Diese wiederum trägt der Bund zu 29,1 Prozent. Der will diesen Anteil soll nun "auf null" reduzieren, wogegen die Kommunen protestieren.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Stephan Articus, bezeichnete es als "absolut unrealistisch", Rückzahlungen der Kommunen an den Bund zu erwarten. Viele Städte berichteten sogar von Mehrbelastungen durch Hartz IV, sodass eine höhere Bundesbeteiligung notwendig werden könnte. Clement räumte ein, dass ein Einvernehmen mit Ländern und Kommunen erzielt werden müsse.

Für Diskussionen sorgte auch die Ankündigung der Bundesagentur für Arbeit (BA), die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik einschränken zu wollen. Entsprechende Vorschläge einer Expertengruppe können aber allenfalls "Grundlage für eine politische Diskussion" sein, so die BA. Entscheiden müsse die künftige Bundesregierung. "Die derzeit gesetzlich geregelten Förderinstrumente sind historisch gewachsen und mittlerweile kaum noch überschaubar", stellte die BA fest. Die Vielfalt der Förderinstrumente verringere die Zeit für die Vermittlungstätigkeit.

Zur Disposition stehen nach den Vorschlägen der BA-Experten auch Kernideen der Hartz-Reformen. So könnten die Instrumente Ich-AG und Überbrückungsgeld, die Arbeitslosen den Weg in die Selbständigkeit ebnen sollen, zusammengefasst werden. Auch könnte der Zwang entfallen, in jedem Arbeitsagenturbezirk mindestens eine Personal-Service-Agentur (PSA) einzurichten. Der DGB begrüßte gestern Überlegungen zur Reform der Reform. "Auch wir wollen die Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit auf ihre Wirksamkeit überprüfen", sagte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer in einem Zeitungsinterview. "Aber es geht nicht um eine Streichliste." Die Ich-AG sei daher über Steuern zu finanzieren und nicht über Beitragseinnahmen.

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