Die Mülheimer Baupolitik vom Harakiri auf weniger zerstörerische Füße stellen? Geht das überhaupt, bei der Verquickung von Politik und Immobilienwirtschaft?
Seit etlichen Jahren wird im schrumpfenden Mülheim, der Stadt mit dem höchsten Altersdurchschnitt in NRW, weit über dem Landesdurchschnitt Bauland ausgewiesen und bebaut. Wir schrumpfen weniger als die Nachbarstädte, verkünden stolz die Planer und Politiker oder lassen die Bild-Zeitung wie in ihrer Ausgabe am 28.9.10 „das Wohlfühl-Geheimnis von Mülheim“ erfinden. Mehr hier
Inwieweit diese Baupolitik den Nachbarstädten gegenüber kannibalistische Züge zeigt oder diese zwingt, ihre Grün- und Freiflächen ebenso zur Disposition zu stellen, ist die eine höchst bedenkliche Seite. Die exzessive Zerstörung vieler wertvoller Frei- und Grünflächen stößt aber auch seit Jahren nicht zufällig auf immer massiveren Widerstand der eigenen Bürger (von Heimaterde vor Jahren bis nun zu Tilsiter und Mendenerstr. oder Fängerweg!), denn ökologische sowie städteplanerische Grundlagen und die Wohn- und Lebensqualität der real existierenden Bevölkerung leiden zusehends. Auch deshalb ist es überfällig, die gesamte Baupolitik der Stadt Mülheim zu überdenken, bevor Umkippeffekte einsetzen, die ohnehin bereits unvermeidlich sein werden. Im folgenden eine Zusammenfassung und der WAZ-Artikel von letzter Woche, der auch zeigt, wie schwierig ein solches Umdenken insbesondere in der Mölmschen SPD sich gestaltet.
Neue Wohnbaugebiete entstanden in Mülheim zuletzt u.a. an der Klotzdelle, an der Mergelstr., der Kuhlenstr., der Hagenauer Str., weiterhin massiv auf dem Kasernengelände und ebenso auf der Saarner Kuppe. Außerdem wurde zusätzliches Baurecht geschaffen an der Augustastr., auf dem ehemaligen Schulgelände Mühlenfeldschule, am Erbecksfeld, am Hingberg in den Zwischenhöfen, an der Scheffelstr., im ehemaligen Stadtbad, in der verkauften Jugendherberge, in etlichen Baulücken überall im Stadtgebiet uswusf..
Zusätzliche Bebauungspläne für Fünterweg/Honigsberger Str., Mariannenweg, Oemberg/Nachbarsweg, Aug. Thyssen-Str. in Mintard und auf den bisherigen Sportplätzen am Blötterweg und an der Hochfelder Str., wurden zuletzt rechtskräftig. Mit dem 100-Häuser-Programm kommen Wohnhäuser auf dem Schulgelände Auf dem Bruch und an der Sellerbeckstr. hinzu. Weitere B-Pläne sollen zusätzliche Baugebiete schaffen an der Tilsiter Str./Oppspring, an der Mendener/Bergerstr., am Fängerweg, Klöttschen/Vereinstr., in der Heimaterde Kleiststr./Schwarzenbeckstr., an der Holzstr., und natürlich an der Ruhrpromenade zusätzlich zum Stadtbad, nachdem Bücherei und Rathausneubau bereits abgerissen sind. Demnächst soll auch das Schulgelände Arnoldstr. zur Wohnbebauung umfunktioniert werden, die leerstehende Lederfabrik Hammann angeblich ebenfalls, am Postreitweg, am Schlippenweg, am Lönsweg, am Hantenweg, im Rumbachtal uswusf…. überall noch Pläne für zusätzliche Wohnbebauung.
Aber auch zusätzlicher Bedarf in der schrumpfenden Stadt Mülheim setzt eben voraus, dass mindestens 8000 Wohnungen vom Markt verschwinden! Nach einer Marktanalyse der “Arbeitsgruppe Regionale Wohnungsmarktbeobachtung” werden in Mülheim nämlich in den Jahren bis 2025 rund 8000 Wohnungen wegen nicht vorhandener Nachfrage vom Markt verschwinden. Gleichzeitig wird sich laut dieser Marktanalyse die Zahl der Haushalte um etwa 6000 verringern, so dass ein Neubaubedarf von etwa 2000 Wohneinheiten gesehen wird, vgl. WAZ Mülheim vom 24.03.2009, von Andreas HEINRICH „Studie zum Wohnungsmarkt – Neubaubedarf bleibt“, WAZ-Artikel mit MBI-Vorwort hier
Auch die Strategie der o.g. Arbeitsgruppe nimmt bewusst den Ruin etlicher Immobilienbesitzer in Kauf!
Die sehr gründliche Marktanalyse zum Mülheimer Wohnungsmarkt von Dr. Dietz für die BI „Schützt Menden“ von Sept. 2010 sieht das dagegen so: „Die Annahme, es gebe in Mülheim derzeit einen unstillbaren Bedarf an gehobenem Wohnraum, ist unzutreffend.“ Die ganze Studie “Mit Vollgas in den Leerstand?“ ist nachzulesen als pdf-Datei (189 KB)
Die unsäglich peinliche Diskussion in 2009 um den Standort der Fachhochschule hatte zumindest den Nebeneffekt, dass die altindustriellen Flächen von Lindgens, Ibing und Rauen in den Fokus gerieten. Das Lindgens- oder das Rauen-Gelände wurden als mögliche FH-Standorte von der Stadtspitze und der Ratsmehrheit massiv bekämpft, weil sie hofften, das zu kleine und hoch problematische Ruhrbania-Gelände zwischen Eisenbahn- und Nordbrücke mit der FH auf Kosten des Landes umwandeln zu können. Auch das misslang, doch wurde so der etwa im Vergleich zu Lindgens nur suboptimale Standort Duisburger Str. gewählt. Erst grollte man/frau Lindgens ob der attraktiveren Konkurrenz und wollte jede weitere Entwicklung am Kassenberg blockieren. Doch dann hatten OB Mühlenfeld und M&B-Chef Schnitzmeier für die Expo-Real in München außer der Jugendherberge nichts mehr in Petto (Man konnte nicht schon wieder das siechende Ruhrbania präsentieren). So erinnerte man sich des großen Potenzials an Kassenberg und Heuweg, verkündete das urplötzlich über Presse und genau das stieß auf sehr großes Interesse auf der Immobilienmesse im Sept. 2010. Die Projektentwickler von Hochtief stellten danach verschiedenen Fraktionen Projektentwürfe vor und schließlich wurde im Wirtschaftsausschuss am 1.2.11 auf Antrag von M&B die Bereichsplanung einstimmig (!) beschlossen. Die MBI hatten bereits in dieser Sitzung darauf hingewiesen, dass zusätzliche Wohnungen in diesen attraktiven Broicher Gebieten notwendigermaßen die Aufgabe anderer, bisheriger Planungen bedeuten müsse, und zwar sowohl in Außenbereichen wie an Tilsiter- und Bergerstr. oder am Hantenweg, als auch bei Verdichtung in Innenbereichen wie am Fänger-, Mariannen- oder Fünterweg und vor allem der endgültige Verzicht auf Wohnbebauung im Ruhrbania-Bereich zwischen Eisenbahn- und Nordbrücke (Baufelder 3,4,5), wo bekanntlich noch die intakten Gebäude von Gesundheitshaus, AOK und ehemaligem Arbeitsamt dafür abgerissen und Ersatz gefunden werden müssten.
Am 8.2.11 im Planungsausschuss äußerten die SPD-Vertreter massive Bedenken (vgl. WAZ-Artikel unten) gegen die Umwidmung der Flächen an Kassenberg und Heuweg, obwohl sie selbst dem 1 Woche zuvor zugestimmt hatten.
WAZ-Mülheim, 09.02.2011, Andreas Heinrich
Wohnen: Politiker in Mülheim uneins über Ausrichtung der Baupolitik
der ganze Artikel hier
Die Fläche der ehemaligen Ibing-Brauerei könnte bald Platz für eine neue Wohnsiedlung bieten.
Mülheim. Wohin geht’s in Mülheims Baupolitik? Bei der Frage, ob Wohnsiedlungen verdichtet oder alte Industriegebiete neu besiedelt werden sollen, herrscht Uneinigkeit zwischen den Parteien. Ein Streitpunkt ist die Planung fürs Lindgens-Areal am Kassenberg.
Die Politik streitet über Bauland. Und die Bürger? Die einen plädieren für neue attraktive Wohngebiete, oder regen sich über geplante Bauprojekte auf, beklagen eine zunehmende Verdichtung, und wieder andere sind überzeugt: Es gibt in Mülheim schon jetzt ein zu großes Angebot am Markt. Wirklich?
„Wir sollten dringend überlegen“, appelliert der Sprecher der Mülheimer Bürgerinitiativen (MBI) Lothar Reinhard, „ob wir unsere Baupolitik in den nächsten Jahren nicht komplett verändern sollten.“ Und er zählt mit der Bebauung an der Hochfelderstraße, am Blötterweg, am Fünter Weg, am Mariannenweg, an der Tilsiter Straße, am Fängerweg gleich reihenweise neue Baugebiete auf.
Lieber alte Industrieflächen neu bebauen
Der Blick einiger Planungspolitiker fällt in jüngster Zeit verstärkt auf das Areal der Lederfabrik Lindgens am Kassenberg, die sich in den nächsten Jahren dort zurückzieht. Ein ideales Gebiet zum Wohnen, sagen die MBI. So sieht es auch Wirtschaftsförderer Jürgen Schnitzmeier. Bereits auf der letzten Immobilienmesse Expo Real hatte er das Gelände an der Ruhr als Top-Standort für Wohnen oder weiteres Gewerbe präsentiert.
Sollte eines Tages der Kassenberg zum Standort für exklusives Wohnen werden, könnte auch das Grundstück der einstigen Ibing-Brauerei ein paar Meter weiter für Wohnzwecke entwickelt werden. Die Zielrichtungen dahinter: Lieber alte Industrieflächen neu bebauen statt bestehende Wohngebiete noch weiter zu verdichten, und das zu Lasten der Natur.
Konkurrenz zur Ruhrbania
Es stimme schlicht nicht, empört sich Wilfred Buß (SPD), dass an allen Ecken und Enden gebaut und dabei Grünflächen vernichtet würden. „Es gibt eindeutig festgesetzte Grenzen im Flächennutzungsplan.“ Die SPD gibt sich am Kassenberg kritisch. Der Vorsitzende des Planungsausschusses, Dieter Wiechering, wundert sich, dass ausgerechnet der Kassenberg als naturnahes Gelände von denen zur Bebauung ins Gespräch gebracht wird, die gegen jede kleine Asphaltierung an anderer Stelle klagen.
Sollte Lindgens am Kassenberg eines Tages den Antrag auf Wohnen stellen, muss die Politik entscheiden. „Wir müssen uns aus städtebaulicher Sicht sehr genau überlegen, ob wir dort Wohnbebauung wollen“, sagt der planungspolitische Sprecher der SPD, Claus Schindler. Dort würde dann ein völlig neues Stadtquartier errichtet, mit vielen ungelösten Verkehrsfragen. Und es würde aus seiner Sicht auch eine Konkurrenz zu Ruhrbania auf der anderen Seite der Ruhr entstehen, wo ebenfalls in den nächsten Jahren zahlreiche neue Wohnungen gebaut werden. „Wollen wir das? Oder brauchen wir solche Flächen wie das der Lederfabrik nicht viel dringender für neue Gewerbeansiedlungen?“
Überschuss an Baufeldern
Für den Leiter des städtischen Planungsamtes, Martin Harter, gilt zuerst die Richtschnur des Gesetzgebers: „Bevor neu in Außengebieten gebaut wird, sollten zunächst die Möglichkeiten der Innenbebauung ausgeschöpft werden. Also Gebiete wie am Fängerweg in Saarn, wo sich die Anwohner dagegen wehren, dass Gartenland zu Bauland gemacht werden soll. Auch dort spricht man von einem Überschuss an Baufeldern.
Von einer gemeinsamen Linie in Sachen Bauen ist die Politik weit entfernt. Von einer Prioritätenliste, die regelt, wo was mit Vorrang von der Stadt behandelt werden soll, hat man sich verabschiedet, nachdem man mal wieder über Eppinghofen und die Bruchstraße gestritten hat. Keine Zukunftsschule an der Stelle, dann sei dort auch keine Eile beim Bebauungsplan nötig, meint die CDU. Die SPD wittert nach wie vor den Verdacht, dass Teile der Mülheimer Politik statt einer Schule dort lieber neues Bauland hätten – für Einfamilienhäuser.
Soweit die WAZ. Zum Thema auch:
20.6.10: FAZ: Cuxhaven hat in der Wohnbaupolitik umgesteuert. “Cuxhavener Wohnlotsen” zur Aktivierung von Bestandsimmobilien anstatt immer weitere Grün- und Waldflächen zur Bebauung freizugeben, wie Mülheim das tut. Der ganze FAZ-Artikel als pdf-Datei (58 KB). Von Cuxhaven lernen! MBI-Antrag dazu, der leider (noch) keine Mehrheit im Wirtschaftsausschuss fand, nachzulesen hier
zu konkreten Mülheimer Bauprojekten oder Stellungnahmen
- Übersicht zu Mülheimer Bauprojekten von 2000 bis 2010 hier
- Brief von Prof. Sperlich an alle Stadtverordneten: “Bitte helfen Sie, die Bebauungspläne Berger Straße und Tilsiter Straße zurückzustellen und lassen Sie die Planer gründlich neu überlegen, wie eine nachhaltige Stadtentwicklung zu erfolgen hat, bevor der Landschaftsfraß weiter um sich greift!” als pdf-Datei (66 KB)
- “Mit Vollgas in den Leerstand?“ – Marktanalyse zum Mülheimer Wohnungsmarkt von Dr. Dietz als pdf-Datei (189 KB)
- “Mülheimer Bauwut ist Harakiri!” von März 09 hier und von Juni 10 hier
- „Alle Revierstädte schrumpfen, nur eine nicht ….. Was ist das Wohlfühl-Geheimnis von Mülheim?“ so die Bild-Zeitung mit Foto der strahlenden OB am 28.9.2010. Wie bitte? Mehr hier
- Mehr zu den Bauplänen in der Heimaterde hier
- Mehr zum B-Plan “Tilsiter Str./Oppspring” hier und Offener Brief der BI “Frische Luft für Mülheim” an die Mülheimer NRW-Ministerpräsidentin Kraft zum Thema: “Unverantwortlicher Umgang mit Flächenverbrauch in NRW, Beispiel Mülheim an der Ruhr” als pdf-Datei (62 KB)
3.10.12: WAZ+NRZ: „Kampf um besseres Klima – Seit Jahren kämpft eine Bürgerinitiative in Holthausen gegen die Bebauung der freien Flächen auf dem Feld Oppspring/Tilsiter Straße. Die Initiative bekommt jetzt neue Rückendeckung durch ein weiteres Gutachten, das Wissenschaftler der Universität Bochum, Abteilung Geographie/Klimatologie, erstellt haben.“ hier - Mehr zum B-Plan “Mendener/Bergerstr.” hier
- Mehr zu den B-Plänen zur Umwandlung der beiden Speldorfer Sportplätze hier
- Mehr zu den Bauplänen am Lönsweg hier